Die dunkle Spur der Vergangenheit

Jörn Rüsen und Jürgen Straub über Spuren der Geschichte

Von Andreas HamburgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hamburger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse" rief uns Jacques Derrida kürzlich zu. Dieser Zuruf, dem man den Nachruf anhört, meint: Wer dem Vergessen so nachhaltig seine Indifferenz geraubt hat, kann nicht einfach "vergessen" werden. So hätte die Psychoanalyse also gleichsam einen Fuß in der Tür der Geschichte. Es gibt aber noch andere Gründe, die dem Vergessenwerden entgegenstehen, zum Beispiel das Weiterleben im Dialog.

Damit befaßt sich der Band "Die dunkle Spur der Vergangenheit". Er gehört zu der vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld vorgelegten vierbändigen Reihe "Erinnerung, Geschichte, Identität" und widmet sich dem psychoanalytischen Zugang zur Geschichtswissenschaft.

In seiner Einleitung plädiert Jürgen Straub dafür, Psychoanalyse nicht nur als biographische Hilfsdisziplin zu dulden, sondern sie als Theorie der kollektiven Traumatisierung, als Kulturtheorie, als Theorie narrativer Kompetenz und als Gedächtnistheorie ernstzunehmen. Zu kurz kommt in Straubs Diskussion meines Erachtens, daß psychoanalytische Erkenntnis unabdingbar an die psychoanalytische Situation gebunden ist. Lorenzers "Tiefenhermeneutische Kulturanalyse" (1986) wird zwar pflichtgemäß zitiert, seine methodische Skepsis bezüglich des Theorietransfers bleibt aber unerwähnt. Die methodenkritische Diskussion wird allerdings in einigen Beiträgen des Bandes nachgeliefert, etwa in José Brunners Darstellung des impliziten Kulturoptimistismus von Freuds Religionskritik.

In Straubs Einleitung finden neuere psychoanalytische Theorien wenig Erwähnung. Der Titel von Peter Loewenbergs Artikel über die Anwendbarkeit der psychoanalytischen Ichpsychologie und Objektbeziehungstheorie auf die Geschichtswissenschaft ließe erwarten, daß dies nachgeholt würde. Doch verwendet Loewenberg die psychoanalytischen Theorien als Arsenal einer zweifelhaften Ex-post-Analyse. Seine Untersuchung der Ermordung Walther Rathenaus 1922 gipfelt in einer Diagnose: Rathenaus bewußtes Inkaufnehmen des politischen Mordes beruhe auf einer unbewußten homosexuellen Unterwerfung des Juden Rathenau unter den "blonden Junker". Als "psychohistorisch" soll dieser Befund sich dadurch erweisen, daß in der individuellen psychischen Konstellation sich die Situation des deutschen Judentums in der wilhelminischen Ära spiegele.

Zur Gedächtnistheorie der Psychoanalyse trägt Matthias Kettner mit einem Artikel über Freuds "brisante Erinnerungstheorie" bei, als deren Kern er das Theorem der Nachträglichkeit ausmacht. So nahtlos diese Sichtweise in die konstruktivistische Gedächtnistheorie paßt, so wenig ist sie ohne weiteres bei Freud zu finden, wenn man ihn nicht arg gegen den Strich liest (wie schon Laplanche und Pontalis 1967 in ihrem "Vokabular der Psychoanalyse"). Dennoch ist Kettners These fruchtbar. Die zeitgenössische Kritik von Speichermodellen des Gedächtnisses zwingt die Psychoanalyse zu einer Revision ihrer Theorie des Erinnerns. Die freilich - und hier fehlt bei Kettner ein Vermittlungsstück zwischen individuellen Gedächtnisleistungen und dem, was er die "gemeinschaftliche Konstruktion unserer Vergangenheit" nennt, schon in der individuellen Biographie als Interaktionsprozeß zu begreifen ist.

Eine Gruppe von Beiträgen widmet sich der Theorie temporaler Sinnbildung, organisiert um die Schlüsselbegriffe "Trauma" und "Adoleszenz". Aleida Assmann widersetzt sich der konstruktivistischen Gedächtnistheorie und besteht auf der "Vergangenheit als real existierendem materiellen und ideellen Problemüberhang." Insbesondere ihr an Lyotard entwickelter Traumabegriff stellt einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt auch zur zeitgenössischen psychoanalytischen Gedächtnisdiskussion dar, obwohl Assmann die psychoanalytischen Aspekte nicht expliziert. Michael Roth, der dieses Thema pointiert fortführt, hält narratives Gedächtnis und Geschichte für die "stärksten und subtilsten Formen des Vergessens" und fordert eine Geschichtsschreibung, die sich der Bürde nicht entäußert, "gegen das Vergessen zu schreiben, während man gleichzeitig die Beteiligung des Schreibens am Vergessen anerkennt".

Bedauerlich ist der mangelnde Bezug der Autoren aufeinander, besonders zwischen den eng verwandten Arbeiten von Mario Erdheim, der aus ethnopsychoanalytischer Perspektive die Adoleszenz untersucht, und Hans Bosse, der am Beispiel der heterogenen Kultur des modernen Papua-Neuguinea eine Theorie des spontanen und experimentellen Jugendrituals skizziert.

Ein dritter Teil des Buches behandelt die "Kette der Generationen". Er wird eingeleitet und abgeschlossen durch Beiträge von Brigitte Rauschenbach. Ihre Eingangsthese lautet: Die Überlieferung geschichtlicher Erfahrung in der Kette der Generationen erfolgt im Wege der Übertragung von den Eltern auf ihre Kinder - eine Blickrichtung, die der Psychoanalyse lange entgangen war. In ihrem abschließenden Artikel mahnt sie eine Kultur, ja eine Politik des Gedächtnisses an. Zwischen diese beiden Thesen sind die Beiträge der Psychoanalytiker eingeordnet. Es ist unmöglich, sie ohne tiefe Beklemmung zu lesen. Sie handeln im Schwerpunkt vom Umgang mit genau der Geschichte, die anzuerkennen noch schwer fällt. Werner Bohleber beschreibt transgenerationelle Traumatisierung als Störung der entwicklungsnotwendigen Container-Funktion, mit der Konsequenz, daß die Kinder der Opfer in der traumatisch zerstörten Welt ihrer Eltern leben. Auch für die Kinder der Täter gilt, daß in ihrer Psyche die unbenannte Schuld der Eltern wiederauftaucht. Die transgenerationelle Weitergabe von Trauma, Gewalt, Verlust und Schuld erzeugt primitive Identifizierungen und führt zu Identitätsverwirrungen und Fragmentierungen. Die Fallgeschichte des Sohnes eines KZ-Arztes zeigt nicht nur die Wirksamkeit dieser Identifikationsmechanismen, sondern auch die enormen Schwierigkeiten ihrer psychoanalytischen Aufklärung. Dori Laub und Daniel M. Podell untersuchen die Folgen traumatischer Erfahrungen zwischen dem pathologischen Ausschluß des bewußt Erfahrenen aus dem Raum des eigenen Wissens und der Möglichkeit, trotz der überwältigenden Macht des Nichtwissens, gegen die Übermacht des Traumas richtig, das heißt rettend zu handeln. Jürgen Müller-Hohagen belegt das Fortwirken der "Geschichte in uns". Er weist darauf hin, daß die Aufdeckung dieser Kontinuität einen aktiven Reflexionsprozeß erfordert. Michael B. Buchholz zeigt an Beispielen aus der Familientherapie, wie die reale Erfahrung der Vorgeneration die psychische Struktur und das Traumleben der Folgegeneration bestimmt.

Daß die abschließenden Arbeiten unter "Fallstudien" rangieren, ist kaum verständlich. Kasuistischer als die psychoanalytischen Beiträge sind sie nicht. Schreibt sich hier die Trennung der Methoden fort? Irmgard Wagner untersucht den in Psychoanalyse und Literaturwissenschaft tabuisierten Schamdiskurs (hier belegt am Beispiel der Iphigenie-Rezeption), Arthur B. Mitzman untersucht identitätsstiftende Nationalmythen, wobei er der Anwendung des Arsenals psychoanalytischer Konstrukte skeptisch gegenübersteht und Hans-Dieter Königs untersucht den Film "Beruf Neonazi". Obwohl König methodisch den Status einer Kulturanalyse nach Lorenzer (1986) beansprucht, entbehrt seine "szenische" Analyse freilich der von Lorenzer geforderte Dimension der Beteiligung des Analytikers / Interpreten.

Fazit: Ein verdienstvoller Band, der Lust macht auf eine Fortführung der Debatte. Mehr ist von einer interdisziplinären Tagung nicht zu erwarten, auch wenn diesem Buch, wie leider den meisten Tagungsbänden, der Mangel anhaftet, den gegenseitigen Bezug zwischen den Beiträgen und den Beiträgern der Phantasie des Lesers zu überlassen. Man fragt sich dann manchmal doch, wozu es gut sein soll, daß die Leute miteinander reden.

Es ist kein Zufall, daß die eindringlichsten Darstellungen dieses Bandes von praktizierenden Psychoanalytikern stammen - und daß sie von der Geschichte handeln, deren Verdrängung noch immer aktiv betrieben wird. Psychoanalyse ist kein neutrales Instrument zur Aufdeckung unbewußter Aspekte von Geschichte, sondern ein Teil der Gegenwart; sie wird zum überzeugenden Moment des Geschichtsbewußtseins dort, wo wir selbst uns davor noch schützen müssen. Und hier ist sie auch wirklich gefragt, während ihre Einordnung in den Betrieb der Geschichtsforschung oft etwas bemüht wirkt.

Was an der Psychoanalyse wirklich und beharrlich lebt, ist ihre kritische Potenz: die Wunde, die sie der eigenen Kultur zugefügt hat. Gerade deshalb kann sie nicht vergessen werden. Freilich ist, wie oben ausgeführt, gerade das Erinnern die stärkste und subtilste Form des Vergessens. Plädieren wir also mit Michael Roth für ein Weiterwachsen der Interdisziplinarität, das sich des eigenen Tranquilizereffektes bewußt bleibt.

Titelbild

Jürgen Straub / Jörn Rüsen: Die dunkle Spur der Vergangenheit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
460 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518290037

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