Weiß ist die Farbe der Hybris

Michael Roes über die Haut des Südens

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Reisebericht also. Erstes Blättern - keine Bilder, keine Karte. Dafür Kapitelüberschriften: MACULA, PAPULA, PHYMA, CICATRIX, ATROPHIA, zu Beginn der Kapitel lexikalisch erklärt als "Primäreffloreszenz der Haut" oder "schubweise aufblühende warzige Papeln" oder auch "zell- und gefäßarme Verhornung". Im Text unterschiedliche Schrifttypen, Zwischentitel wie "Geschichte", "Szene" oder "Rückblende", auch Auflistungen, Verse und über viele Seiten durchnummerierte Sätze. Ein Epilog: "Die wundersame Errettung der Sodomiter". Ich richte mich auf eine komplizierte Lektüre ein.

Der Text selbst beginnt jedoch ganz konventionell. Ein Zitat aus Mark Twains "Leben auf dem Mississippi" über die Stadt Hannibal, die die erste Station des reisenden Erzählers ist. Die Sprache ist nüchtern, sachlich werden die Fakten geliefert. Merkwürdig nur, dass ihm die Sachwalter von Mark Twains Erbe in auffallend fortgeschrittenen Stadien von Invalidität begegnen - Anne mit einer Sauerstoffflasche auf dem Rücken, Bruce als Schlaganfallpatient (was ihn nicht hindert, Auto zu fahren) und Henriette frischoperiert nach einem supraglottischen Karzinom (was sie nicht hindert, mit ihrer elektronischen Sprechhilfe zu reden wie ein Buch). Dann hält sich wie selbstverständlich Martin Luther King in Memphis auf (1998!)...Nein, dieser Bericht ist nicht ganz auf der Ebene der Realität angesiedelt, auch nicht die Hautkrankheit des Erzählers, anfangs relativ harmlos als "Vasculitis" bezeichnet und noch diskret unter Hosenbeinen zu verstecken, sich im Verlauf aber über den ganzen Körper verteilt und in immer drastischeren Worten beschrieben wird: "Balggeschwulst, Grützbeutel und bröckelnder Hautgrieß". Anfangs schämt der Reisende sich noch der aufblühenden Pusteln, wird auch einmal in Quarantäne genommen wegen Ansteckungsgefahr, am Ende aber sucht man seine "heilsstiftende Nähe", er ist der "Mann Gottes", mit dessen Eiter sich die Menge gegen das Unheil betupft. Da hebt der Erzähler dann vollends und buchstäblich ab, auf seiner "Bettarche", die er sich mit dem schwarzen Gefährten Daniel zum Schutz vor dem nahenden Hurricane Wayne bereitet hat. Während das sündige New Orleans, verwüstet wie einst Sodom, in den Fluten versinkt, schimmert unter des Erzählers Pusteln "neue zarte Haut".

Die Haut, lässt mich der Reisende über die Darstellung hinaus auch reflektierend wissen, ist nicht nur unwesentliche Oberfläche, unter der, tiefer, das Wesen liegt. "Allein die Oberfläche macht uns zu einem abgegrenzten, identifizierbaren Wesen." Die Haut, als Bild auch übertragen auf die "schorfige Stadt" Memphis, schält sich als Leitmotiv heraus, so wie als Kernthema die Hautfarben Schwarz und Weiß. Die eigentliche Erzählebene ist eine gedankliche. Fragen und Forschungen des Erzählers gelten vor allem dem Schicksal der Schwarzen, der ehemaligen Sklaven, in den Südstaaten und der Einstellung der Bewohner, früher und heute. Erkenntnisinstrument ist die Lektüre einschlägiger Autoren, Mark Twain, Melville, Hemingway, Faulkner: was für ein Bild von den Schwarzen wollen sie geben? Welche Einstellung steckt dahinter? Was kommt ungewollt an die Oberfläche? Sehr schön die Passage über Melvilles Moby Dick und seine Umkehrung der angeblich universell gültigen Hautfarbenlehre Weiß (Licht und Leben) - Schwarz (Dunkelheit und Tod): das Entsetzen vor dem Weiß. "Der Wal ist weiß. Weiß ist die Farbe der Hybris". Der Reisende recherchiert in Museen und Archiven über Vorbilder zu den Romanfiguren, fügt Anekdoten und eigene Gedanken ein, befragt Nachkommen und andere Kundige, erweitert das Thema auch um blutige Greuelgeschichten und spektakuläre Burgerrechtsfälle, (etwa den von James Meredith, der noch im Jahr 1961 nur unter massivem Polizeischutz an der Unversität von Mississippi studieren konnte). In der intimen, hautnahen Berührung mit Daniel, dem Medizinstudenten aus Nigeria, erlebt er die Möglichkeit einer Verbindung von Schwarz und Weiß, von der er erzählt, als sei er in Melvilles Haut geschlüpft. Die Haltung der Leute heute ist klar: "Wir alle sind ganz normale Südstaatler und, wie Sie doch sicher wissen, wie alle Südstaatler ganz normale Rassisten."

Ein ordentlicher Reisebericht ist das natürlich nicht. Und wer Roes' bisherige Arbeit kennt, hat einen solchen auch nicht erwartet. Schon sein Jemen-Bericht "Rub' Al-Khali. Leeres Viertel" war ein vielschichtig-komplizierter Text über die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) des Verstehens anderer Kulturen. Diese "Mississippireise" erzählt wenig vom Mississippi; der fließt braun am Rande. Es gibt wenig Landschaft, und wenn, eher abstoßende. Da ist keine kreolische Küche und kein Dixie. Klischees werden nicht bedient. "Am Anfang war nicht der Blues. Am Anfang/ Steht die Vertreibung der Chickasaw". Und wenn der Reisende einmal zu einer Charakterisierung ausholt - "Süden das ist Hitze Nacktheit dunkle Haut...", dann wird dies gleich kenntlich gemacht als "Sicht des Nordens", der dadurch "um so weißer kühler" erscheint. Das Fremde wird in der Sprache konstruiert, die der Welt im Grunde Gewalt antut. So war dies auch Thema in Roes' Roman "Der Coup der Berdache" (1999). Nur unsere Vorstellungen, nicht aber der Mensch an sich ist festgelegt, weder im Geschlecht noch in der Rasse noch in seinem Wesen überhaupt.

Am Ende, nach einer bibeldonnernden Strafpredigt, die nicht nur Louisiana, sondern auch Gaza und Belgrad ihrer Sünden wegen unter Sirenengeheul der apokalyptischen Vertilgung anheimgibt, lege ich das Buch zur Seite und prüfe, was mir als Leser bleibt. Es bleibt eine neuartige, tatsächlich unter die Haut gehende Einsicht in das komplexe Problem Schwarz und Weiß. Es bleiben Zweifel, ob dieses Buch insgesamt nicht zu abgehoben ist, um zu berühren. Es bleibt ein ziemlich abwertendes Urteil über den Süden der USA. Es bleibt die Vorstellung eiternder Haut, daneben aber kaum ein sinnlich greifbares, erinnerbares Bild - was ich behalten habe, stammt vorwiegend aus den literarischen Zitaten. Es bleibt das (intellektuelle) Vergnügen an dem eigenwilligen Umgang mit literarischen Formen und Tonarten. Was aber vor allem bleibt, ist der Eindruck, dass sich der Erzähler offenbar dem klassischen Topos des Reiseromans verweigert - der Reisende als Lernender, sich Wandelnder. Roes bzw. sein Erzähler (die beiden haben einiges gemein) verunsichert den Leser: Er kommt mit vorgefasster Meinung, was sogar den Leuten im Buch auffällt - er ist nur an den "dunklen Seiten" ihrer Geschichte interessiert. Verändert hat sich am Schluss nur seine Haut. Er reist, um "das Fürchten zu lernen", setzt sein Inneres, sein Wesen aber weder dem Land noch dem Leser aus. Er wirkt distanziert und festgelegt. Ein überraschender Befund bei einem Theoretiker wie Roes. Er kommt nicht aus seiner Haut.

Titelbild

Michael Roes: Haut des Südens.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
264 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3827003660

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