Vorbemerkung

"Machen sie eine Weltreise und zahlen Sie nur ein Taschengeld", wirbt die EXPO-Geschäftsführung wenige Tage vor Schließung noch um ihre Besucher und verschickt Postwurfsendungen, die im Adressfeld "alle zukünftigen Weltreisenden" ansprechen. Offenbar bietet sich das Reisen als Metapher für eine Vielzahl kultureller und symbolischer Praktiken an. Jede Flucht kann als Reise, jeder Drogenrausch als Trip und jede Erinnerung als Ortswechsel inszeniert werden. Fasst man alle Literatur zusammen, die das Reisen zum Thema hat, ergibt sich ein wahrhaft riesiges Arsenal. Das Reisen erscheint geradezu als weltliterarische Universalie, ähnlich wie Liebe und Tod. Das Thema ist literarisch omnipräsent und nicht selten handlungsstrukturierend. Von Homers "Odyssee" über die Jenseitsreisen der Schamanen, Priester und Propheten, die Gralssucher der mittelalterlichen Ritterepen und die Pilgerreisen ins Heilige Land bis hin zu Wilhelm Meisters umherziehender Theatertruppe oder schließlich Günter Grass´ Indienreisebericht "Zunge zeigen" reicht dann die Spanne dieses Genres. Dabei wäre Gebrauchsliteratur - wie Reiseführer und Handbücher, die ausschließlich Servicefunktionen für Reisende erfüllen - noch gar nicht miterfasst. Die Grenzen zwischen Reiseromanen, Reiseführern und anderer Reiseliteratur sind dabei wenigstens unscharf, ja selbst in Krimis oder in lyrischen Formen werden Reiseerfahrungen gegenwärtig verarbeitet. Wenigstens für eine wissenschaftliche Betrachtung ist daher ein engeres Begriffsverständnis von Reiseliteratur geboten.

Die relativ junge, gleichwohl aber rege Reiseliteraturforschung geht gewöhnlich diesen Weg, wenn sie ihren Gegenstandsbereich auf Texte beschränkt, die nicht nur vom Reisen handeln, sondern auch ein Folgeprodukt vorangegangener Reisen sind. Genauer müsste es heißen: die vorgeben, dies zu sein. Denn ein zentraler Streitpunkt besteht schon lange im Versuch, eine klare Trennlinie zwischen fiktiven und authentischen Textzeugnissen zu ziehen, auch wenn dieses Bemühen häufig genug an der historischen Textpraxis scheitern muss. Einige Popularität erlangen diese Expertendiskussionen vor allem dann, wenn so makaber-skurrile Themen wie der Kannibalismus zur Debatte stehen. Wer deshalb die Reiseliteraturforschung für eine Modeerscheinung hält, unterschätzt sie gewiss. Ihr Potential liegt vielmehr in der enormen Anschlussfähigkeit an die veränderten Fragestellungen sich kulturwissenschaftlich neu ausrichtender Fachdisziplinen. Die vielbeschworene Interdisziplinarität hätte kaum einen geeigneteren Gegenstand finden können. Dies zeigt sich allein schon an zahlreichen inzwischen institutionalisierten Forschungszusammenhängen, in denen historische Reiseliteratur eine tragende Rolle spielt. Graduiertenkollegs zum "Kulturtransfer im europäischen Mittelalter" oder zu "Reiseliteratur und Kulturanthropologie" existieren mittlerweile ebenso wie Sonderforschungsbereiche zu "Identitäten und Alteritäten" oder so spezielle DFG-Projekte wie zu "Enzyklopädischen Europareisen der politischen Funktionsträger des Alten Reichs".

Was sich holzschnittartig als Opposition zwischen der Geschichts- und der Literaturwissenschaft darstellen lässt, nämlich eine Lektüre der Texte einmal als historische Quellen und Dokumente für kulturelle Praktiken und Verhältnisse der Vergangenheit und zum anderen eine Lesart als ästhetisch geformte Gebilde, die bestimmten Traditionen und Konventionen unterliegen und Wirklichkeit weniger abbilden als darstellend interpretieren, ist angesichts der fortgeschrittenen Forschungspraxis wohl nicht mehr haltbar. Längst liest man die Reisebeschreibungen und die in ihnen präsentierten Aussagen über die bereiste Fremde auch als Schlüssel für einen Zugang zu Mentalität und Denken der Schreibenden, mithin als Ausdruck ihrer Herkunftskultur; längst sind die heroischen Forschergestalten der Ethnographie und die "Objektivität" ihrer Untersuchungen durch die Analyse der (auch) rhetorisch-literarischen Konstruktion der Texte entthront. Reiseliteratur dient ferner als Zeugnis nicht selten konflikthafter kultureller Begegnungen. Die beschriebenen Grenzüberschreitungen und -bestimmungen stecken die Kategorien des "Eigenen" und des "Fremden" als entsprechend relationale ab und belegen geographische Räume und ihre Bewohner mit wertenden Zuschreibungen. Fragen der Identitätsbildung durch diese Kontakte und Konfrontationen stehen dabei ebenso zur Debatte wie solche nach den Möglichkeiten des interkulturellen Verstehens überhaupt. Einige jüngere Arbeiten aus dem Feld der deutschen Reiseliteraturforschung sind auch hier in diesem Schwerpunkt vertreten und gewähren einen ersten Einblick in die verschiedenen Arbeitsweisen und Fragestellungen, die sich aus der Beschäftigung mit dem historischen Material ergeben.

Bis zu den aktuellen Publikationen der Reiseliteratur ist die Forschung bislang allerdings noch kaum vorgedrungen. Diese Literatur ist, wie nahezu alles, was heute mit dem Reisen zusammenhängt, vom Kontext der Tourismusindustrie nicht mehr ablösbar. Darüber hat schon vor über vierzig Jahren Hans Magnus Enzensberger in seiner "Theorie des Tourismus" aufgeklärt. Und so sehr auch vom Ende des Entdeckens und dem Ende des Reisens überhaupt schwadroniert wird, so wenig berührt dies die Bilanzen des Buchhandels. Der Tourismus ist nach wie vor eine internationale Wachstumsbranche und mit ihm auch das zugehörige verlegerische Marktsegment. Dort spielt sich der zentrale Kampf vor allem auf dem Gebiet der Handbücher und Reiseführer ab, die durch immer stärker spezialisierte, multimediale, knappere oder buntere Präsentationsformen einem veränderten Reiseverhalten gerecht zu werden versuchen. Allein elf neue Reihen in neun Verlagen liefern seit Ende der achtziger Jahre kleine schmale Bände für Kurz- und Erlebnisreisen, wie das neue Schlagwort lautet. Immerhin informierten sich 1998 über 35% der Reisenden mit Hilfe von Büchern über ihre Reiseziele. "Man sieht nur, was man weiß", war lange Jahre der Werbetext eines Hochglanzmagazins der Reisejournalistik. So ausgerüstet werden die Urlaubsorte zu immer häufigeren, dafür aber kürzeren und kurzfristig geplanteren Aufenthalten angesteuert - und dies zunehmend im Ausland.

Findet die Textgattung informierender Handbücher in unserem Schwerpunkt zur Reiseliteratur zwar keine Berücksichtigung, so steht doch auch eine erzählende, belletristische oder reportageartige Reiseliteratur, wie sie hier zahlreich vertreten ist, nicht weniger in touristischen Funktionszusammenhängen. Sie ist nicht selten ebenso ergänzende Lektüre zur Vor- und Nachbereitung der Reise oder willkommener Reisebegleiter. Wie jedes Reisefeuilleton kommt auch sie kaum umhin, sich affirmativ zu ihrem Gegenstand zu verhalten. Mögen die reisenden Journalisten, Abenteurer und Schriftsteller auch vom Nimbus profitieren, die eigentlich "richtigen" Reisenden zu repräsentieren, die genauer, sensibler und informierter wahrnehmen, die dem touristisch bekannten und erschlossenen Terrain immer noch einmal das Neue, Ungewöhnliche, Geheimnisvolle abzulauschen im Stande sind, so sind ihre Produkte doch gerade deswegen meist auch Werbetexte für das beschriebene Reiseziel. Schon länger gilt die etablierte Touristenschelte durch die Intellektuellen als unfein, und selbst von Seiten der Tourismusforschung wird dem so gerne geschmähten Herdentier mittlerweile zugestanden, dass es gar nicht Wirklichkeiten und Kulturen möglichst authentisch erfahren will. Weniger ist es das Verlangen, sich selbst im Urlaub immer wieder neu in Frage zu stellen und sich durch Bildungserlebnisse zur eigentlichen Selbstwerdung oder Perfektionierung anzuhalten. Dies scheinen überholte Modelle, die zwar hin und wieder in vornehmlich essayistischer Form fortgeschrieben werden und mit einer aktuellen Terminologie fließender Identitäten, performativer Selbstsuche bzw. -veränderung oder etwa Metaphern des Nomadentums aufwarten können. "Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum" - lautete schon Hermann Graf Keyserlings Motto seines "Reisetagebuchs eines Philosophen" von 1918. Es scheint an Aktualität kaum etwas eingebüßt zu haben. Verdächtig nur, wie nahtlos sich die Gloriole des ständigen Aufbruchs und eine anthropologisierte Neugier, die das Movens zur permanenten Selbstveränderung bereitstellt, sich in eine Welt deregulierter Arbeitsmärkte, die ohnehin unablässig nach Flexibilisierung verlangen und eine Mobilität jenseits aller sozialen Bindungen einfordern, einpasst.

Der gewöhnliche Tourist hingegen will gar nicht mehr sich selbst entfliehen oder Wirklichkeiten objektiv-wissenschaftlich erfassen. Er begibt sich bei vollem Bewusstsein in imaginäre Räume, die mehr oder weniger künstlich eingerichtet werden, um ihm spezifische Bedürfnisse nach relativ genau bestimmten Erlebnissen zu befriedigen. Der Schritt vom Erlebnispark zum sportbetonten Risikotourismus ist dann nur ein gradueller Unterschied; beides soll dem Reisen zurückgewinnen, was es historisch einst bereithielt: individuelle Erlebnisintensität und die Gefahr einer Grenzerfahrung. Freilich - kalkuliert muss das Ganze bitteschön bleiben. Wirklich verirren möchte sich niemand auf dem Weg zum Gipfel - man trägt den Peilsender stets bei sich; auch überraschende Kulturkontakte in Form von Geiselnahmen gelten weiterhin als unliebsame Zwischenfälle.

Entwicklungen wie diese werden begleitet von einer Reiseliteratur, in der von Schweißperlen und zusammengebissenen Zähnen zu lesen ist. Aufgesucht werden immer entlegenere Orte und dies unter immer höheren Risiken. Ein Reiseführer zum Mond ist bereits im Handel erhältlich und nur ironischer Reflex auf all die Eiswüstendurchquerungen, 8.000er Gipfelsammlungen und flirrenden Sandstürme. Nur so ist eine Lektürehaltung beim Publikum noch zu erreichen, wie sie bis mindestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts für Reisetexte üblich war: das Lesen als Reiseersatz, der reisende Autor als Stellvertreter für selbst nicht Erreichbares. Hier interessiert statt der besuchten Welt die Person des Reisenden, die Bewegung im Raum selbst wird wegen ihrer Strapazen und Gefahren wieder von Bedeutung für die Beschreibung. Ihr harmloseres Pendant findet solche Reiseliteratur in Berichten, die von ungewöhnlichen und nicht selten unzeitgemäßen Fortbewegungsmitteln handeln: im Fahrradsattel um die Welt, mit dem Esel an deutschen Autobahnen entlang, im Ballonkorb über den Atlantik. Historische Reiseberichte werden wieder publiziert, wo sie Ähnliches versprechen: die erste Automobilüberquerung der Alpen oder die erste Frau mit dem Motorrad in Persien. Vergleichbares findet sich unter den rezensierten Texten.

Vieles an Vergangenem lebt in der gegenwärtigen Schreib- und Publikationspraxis fort. Wo Reiseziele behandelt werden, die im Handumdrehen erreichbar sind, war es seit jeher vor allem der subjektive Darstellungsmodus des weithin Bekannten, der das Interesse am Gegenstand wecken musste. Nur wo dies gewährleistet ist, ist auch eine Neuveröffentlichung historischer Reisetexte, sei es als Anthologie oder als Einzeltext lukrativ. Die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beliebte Präsentationsform von Reiseliteratur in Gestalt von Reihen hat auch heute noch Konjunktur. Fünf aktuelle Reihen werden hier vorgestellt, etliche der besprochenen Bücher stammen aus einer solchen. Auch die Mehrfachpublikation, die seit dem Boom des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert üblich geworden ist, findet heute ihre Fortsetzung. Was einst als Journalbeitrag erschienen war, wird anschließend noch einmal zwischen zwei Buchdeckeln in haltbarere Form gebracht. Auch für solche Reportagensammlungen finden sich unter den folgenden Rezensionen Beispiele. Und schließlich war es schon vor 200 Jahren üblich, sich nicht nur für den Blick der eigenen Landsleute auf die fernen Reiseziele zu interessieren. Oft ist die Perspektive und das Urteil Anderer reizvoller und birgt Überraschenderes. So beschränkt sich auch dieser Schwerpunkt selbstverständlich nicht nur auf deutsche Autorinnen und Autoren.

Wenn von all dem Gesagten ein Reflex nun auch in den folgenden Rezensionen wiedererkennbar ist, hat der Schwerpunkt "Reiseliteratur" vielleicht eine gewisse Repräsentativität erreicht, bei aller Zufälligkeit der Textauswahl. Das Feld ist riesig und ermöglicht in unserem Rahmen weniger als eine Momentaufnahme. Besprochen wurden neben jüngeren Forschungsbeiträgen seit 1993 in erster Linie Neuerscheinungen belletristisch-journalistischer Reiseliteratur der Jahre 1999 und 2000. Auch in den folgenden Ausgaben von literaturkritik.de werden noch weitere Publikationen zum aktuellen Herbstprogramm zu finden sein, die das hier entworfene Bild weiter konturieren mögen.

Tilman Fischer