Augenblicke im Immergleichen

Martin Seels tautologische Ästhetik

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einmal war es das schlechte Gewissen der Kunst, das ihre Protagonisten dazu verleitete, ihre Arbeit als eine vor allem geistige zu beschreiben, den "disegno interno" und die "idea" als die Wahrheit der Kunst zu proklamieren. Für die neuzeitliche Kunstgeschichte kann diese Selbsterhebung der bildenden Künste über das profane Handwerk als ein Schlüsselereignis gelten, das Verständnis und Selbstverständnis der Kunst über Jahrhunderte mitbestimmt hat. Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts kennt dieses schlechte Gewissen nicht mehr. In ganz anderer Weise sieht sie sich zur Rechenschaft gezwungen: Sie habe an die Stelle lebendiger ästhetischer Erfahrung eine sinnlich arme Gedankenwelt gesetzt. Im Sinne konservativer Kunstrezeption klaffen zeitgenössische Kunst und Ästhetik schon längst auseinander.

Tatsächlich bedarf die bildende Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts einer anderen Rezeption als das Blümlein am Wegrand. Sie erschwert damit die Möglichkeit einer umfassenden philosophischen Ästhetik, die ästhetische Alltagserfahrungen, Naturschönes, bildende Kunst, Musik und Literatur in einheitlichen Kategorien zu fassen versucht. Ein Auftrag für Martin Seel, arrivierter Professor für Philosophie. Seel nimmt die Verteidigung einer klassischen philosophischen Disziplin auf. Als Schützenhilfe nennt schon seine Einleitung die ganze Elite der akademischen Ästhetik, eine Armee von 37 Gewährsleuten. Schon daran zeigt sich: er ist ein Philosoph der Integration. Mit seiner "Ästhetik des Erscheinens" möchte er Einheit stiften und aufkommendes Chaos wohlsortiert auf den Begriff bringen. Formale wie inhaltliche Zentralaspekte seiner "Ästhetik des Erscheinens" sind damit benannt.

Seels Schrift sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die diskrete Fokussierung eines besonderen erscheinenden Gegenstands sei allen ästhetischen Einstellungen gemeinsam. Alles erscheint irgendwie in einer besonderen Weise als besonders. Je allgemeiner jedoch eine Bestimmung, desto abstrakter und ärmer ist sie auch. Das stilistische Verfahren ist demgemäß. Die gesamte Entfaltung der Kernthese bemüht Tautologien und Hyperdifferenzierungen und stellt Definitionen vor, die nur selten Neues, Handfestes entstehen lassen. Einmal heißt es: "Etwas in einer sinnlichen Erscheinung zu vernehmen - so könnte man das allgemeine Verfahren sinnlicher Wahrnehmung charakterisieren." Derartige Einsichten können schwerlich begeistern. Die Emphase, mit der Seel seine Thesen illustriert und erklärt, bleibt davon unberührt. Mit der Schubkraft einer Mondrakete rennt Seel offene Türen ein. Manchmal kann sich der Leser von Beispielen und Erläuterungen sogar beleidigt fühlen: Man hatte ja schon verstanden, worauf der Autor hinaus will, bevor buchstäblich das Kinderzimmer des Nachbarjungen ausgebreitet wurde. Seels Liebe zur spielerischen Didaktik ist, kurz gesagt, nicht immer ein Segen.

Aber Seels Buch bietet genügend kurzweilige Momente. Zwischendurch werden ästhetische Fallstudien eingebaut. Sie sind mitunter unvermittelt und nicht immer in der Lage, dem abstrakten Programm einer umfassenden "Ästhetik des Erscheinens" ein lebendiges Fundament zu geben. Dass Begriffe nur ohne Erscheinungen leer bleiben, gilt nur, insofern die Erscheinungen auch die Begriffe illustrieren. Die Analysen und Beobachtungen sind genau, sprachlich reich und mitunter verspielt. Vor allem erleichtern sie die Lektüre des bauchigen Hauptteils. Doch leisten sie kaum mehr als das. Erst nach einer unnötigen Einführung in die Geschichte der Ästhetik und dem Hauptteil über den Begriff des Erscheinens entfaltet Seel in essayistischer Form kunst- und bildtheoretische Thesen, die seinem Reichtum an ästhetischer Erfahrung einen würdigen Platz bieten. In den (eher kurzen) letzten drei Kapiteln wird Kunsterfahrung beredt und verliert ihren wenig plausiblen illustrativen Charakter. Die unprätentiösen Essays ohne Anspruch auf zeitlose Systematik sind literarisch und theoretisch gehaltvoll in einer Weise, wie man sie bis dahin auf 220 Seiten vermisst hat. "Flimmern und Rauschen", das Glück des sinnlichen Entgleitens der Welt tröstet buchstäblich über die vorangegangene zähe Kost hinweg. Es verbindet sich mit dem Glück des sinnlichen Entgleiten des Buches. Ironisch fallen auf diese Weise Form und Inhalt einer Ästhetik, die noch zu formulieren wäre, zusammen: Kontingente Augenblicke der ästhetischen Erfahrung durchbrechen ein Kontinuum des Immergleichen.

Titelbild

Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
336 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3446199411

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