Das Reh und ein überflüssiges Anhängsel

John Updikes Roman "Gegen Ende der Zeit"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem ersten Schneefall setzt John Updikes neuer (im Original bereits 1997 erschienener) Roman "Gegen Ende der Zeit" ein. Es ist November - der Monat, in dem die Depressionen bei anfälligen Zeitgenossen besonders stark zuschlagen sollen. Just in dieser Zeit beginnt der Protagonist Ben Turnbull mit der Niederschrift seiner Tagebuch-Aufzeichnungen. Ein schöner Kunstgriff, den sich John Updike hat einfallen lassen. Er reicht damit den Verfasserstab geschickt an seine Hauptfigur weiter und hofft, sich dadurch irgendwie aus der Verantwortung stehlen zu können. Außerdem hat der 68-jährige Pulitzerpreisträger zur Verwirrungsmaximierung die Handlung auch noch in das Jahr 2020 verlegt. Damit erhält der Titel doppelten symbolischen Charakter: Der ehemalige Börsenmakler Ben Turnbull sieht sich (er ist Mitte 60) am "Ende seiner Zeit" angekommen, und der notorische Kulturpessimist Updike hat durch den Sprung ins Jahr 2020 zugleich noch ein bevorstehendes Zeitalter der Barbarei inszeniert.

Doch die Konstruktion kann nicht überzeugen, weil Turnbulls Leben von den großen Ereignissen nahezu unberührt bleibt. Schließlich haben die USA gerade einen Atomkrieg gegen China verloren, einige südliche Bundesstaaten an Mexiko abtreten müssen, den Dollar gibt es nicht mehr, und kriminelle Vereinigungen erheben in mittelalterlicher Manier Schutz- und Wegezölle. Über dieses Szenario lässt sich ohnehin schon trefflich streiten, doch im Zusammenhang mit einem Atomkrieg von einer "globalen Bevölkerungsdezimierung" zu sprechen, zeugt von wenig Fingerspitzengefühl und kann auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass Updike Turnbull diese Formulierung als Tagebuchnotiz zuschreibt.

Dieser Ben Turnbull ist ein wirklich unangenehmer und unnahbarer Zeitgenosse, der durch seine privaten Aufzeichnungen irgendwie den Lauf der Zeit und den deutlich sichtbaren körperlichen Verfall aufhalten will. Der Protagonist stürzt von einer Depression in die andere; Turnbull, dem der Sex so wichtig ist, muss feststellen, dass seine körperliche Leistungsfähigkeit rapide nachlässt. Das Leben mit seiner zweiten Ehefrau Gloria ist zur Routine geworden; mit Tag- und Nachtträumen hält er seinen Gefühlshaushalt einigermaßen in der Balance. Gelegentliche Abwechslung verschafft er sich mit einer jungen Prostituierten, während seine Frau auf Kunstgewerbemeetings weilt. Nicht nur emotional scheint Updikes Protagonist ein völlig isoliertes Individuum zu sein. Während weite Teile des Landes "verstrahlt" sind, suhlt er sich in einer selbst inszenierten Lebenskrise. Vor allem ist Turnbull aber ein paradigmatischer Verlierer und ein Angsthase, ein Mann mit einem "Hasenherz". Schlimmer als die daraus resultierende Ehekrise wirkt sich für Turnbull ein ärztlicher Befund aus: es wird ein Prostata-Tumor diagnostiziert. Erektionen gibt es nur noch im Reich der Träume; für den libidogesteuerten Ben ist es wohl die schlimmste Katastrophe, die ihm widerfahren konnte, als er nach dem Aufwachen nur noch ein fades Stück Fleisch erblickt: "Wie hat ein so überflüssiges Anhängsel jemals der Nabel meiner Welt sein können?" Wollüstige, verbalerotisch aufgepeppte Altmännerträume, die von Todesängsten umrahmt werden, machen das Gros dieser Handlung aus. Auch Turnbulls imaginierte Ausflüge in die Nazi-Zeit, als Grabräuber in Ägypten und als Frühevangelist können den Roman nicht retten. Nach Lage der Dinge hat uns dieser verdienstvolle Autor nichts mehr zu sagen. Ist auch er am "Ende der Zeit" angelangt"?

Titelbild

John Updike: Gegen Ende der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
400 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3498068768

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