Kann Musik "böse" sein?

Dieter David Scholz über Richard Wagners Antisemitismus

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, die das Buch von Dieter David Scholz offensichtlich ausgelöst hat, ist berechtigt: "Wie antisemitisch kann Musik sein?" Die Antwort auf diese Frage steht bereits auf Seite 6: Es geht dem Autor darum, deutlich zu machen, "daß Wagners musikdramatisches Werk frei ist von jeglichem Antisemitismus". Damit wiederholt er eine Einschätzung, die vor ihm von Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer, Carl Dahlhaus, Martin Gregor-Dellin, Joachim Kaiser, Peter Wapnewski und vielen anderen geäußert worden ist. Sie alle akzeptieren nur Wagners Kunstwerk per se, und das auch nur aus unserem heutigen Verständnis, nicht aber im hermeneutischen Sinn des kulturgeschichtlichen Kontextes seiner Entstehungszeit.

Gegen Scholz' Umstellung von Problemaufriss und Ergebnis wäre nichts einzuwenden, wenn die dazwischen liegenden Gedankenschritte und Beweise korrekt nachgeliefert würden. Das ist jedoch nicht der Fall. Scholz hat tiefgreifende Schwierigkeiten im Umgang mit Argumenten, die nicht in seine Sicht passen. Angesichts der Tatsache, dass Thomas Mann 1940 (im Gegensatz zu früheren Äußerungen) Wagner als "pränazistischen Musikanten" bewertete, stellt Scholz den damals bereits emigrierten Dichter schlicht und einfach als Opportunisten dar. Ein starkes Stück. Scholz schließt die Möglichkeit von Lernprozessen beim ewig neugierigen Thomas Mann offensichtlich aus. Fehlende Lernprozesse sind jedoch eher bei Scholz zu beklagen; seit (bzw. bereits vor) der Erstveröffentlichung seines Buches als (sehr fehlerhaftem) Dissertationsdruck (1993) sind wichtige Texte von Carolyn Abbate (1991), Sander Gilman (1986, 1988, 1991, 1992), Annette Hein (1996), Rudolf Kreis (1999), Barry Millington (1991), Léon Poliakov (1987), Paul Lawrence Rose (1990, 1992) und Marc Weiner (1995) erschienen, die Scholz' Einschätzung, Wagners Kunst sei nicht antisemitisch, ganz und gar nicht teilen. Von jenen Autoren erscheinen bei Scholz nur Rose und Weiner im Register, im Text aber nur Rose, dem "geradezu staunenerregende historische Unbekümmertheit und Ignoranz" attestiert wird. Nicht zu verwundern, dass Scholz im letzten Satz seines Buches Andersdenkende mit dem Anathem belegt, "moralisch infam" zu sein. Wobei man nicht weiß, ob man sich mehr darüber wundern soll, dass ein solcher Satz von einer Universität als Formulierung wissenschaftlicher Äußerung akzeptiert wurde, oder dass so etwas auch noch sieben Jahre später unverändert stehen bleibt.

Ein solches Buch könnte man eigentlich stillschweigend übergehen, wenn sich nicht erstaunlich viele Wagner-Apologeten (selbst der kritische Udo Bermbach) so dankbar, geradezu unheimlich dankbar auf derlei beriefen, und wenn die Bayreuther Festspiele, Weltmeister im Verharmlosen der eigenen Rolle im Dritten Reich wie auch der Judenfeindschaft des Festspielgründers Wagner, nicht bereits besagten Dieter David Scholz vereinnahmt hätten. Für das Programmbuch hat er literarische, anti-antisemitische Beruhigungspillen zu fabrizieren, um dem kräftig zahlenden Publikum weiterhin die seit 1951 geübte Illusion eines "Es-ist-ja-(fast)-nichts-gewesen" vorzugaukeln. Da im Opernbetrieb kulinarische Konsumierbarkeit und inhaltliche Gefahrlosigkeit viel Geld wert ist, wird die in der apologetischen Haltung teils verschärfte Neuausgabe von Scholz' Buch wiederum dort eitel Freude bereiten, wo Wagners Werk weiterhin als "rein" gelten soll.

Mit der Historie geht Scholz ziemlich fahrlässig um. Antisemitismus ist für ihn eher etwas, das richtig erst um 1870 losgeht, und nicht jener "tausendjährige Schmerz", den Heinrich Heine beklagte. Es ist unseriös, den Antisemitismus der Zeit vor Wagner in gerade mal zwei Seiten abzuhandeln und sich dabei vorzüglich auf Namen wie Arndt, Jahn, Hundt-Radowsky und Fries zu stützen, deren Biertisch-Antisemitismus für Wagner nahezu irrelevant ist. Von den Wichtigen erscheint bei Scholz nur Fichte - aber lediglich der Name; Kant, Herder, Brentano, Hegel, Schopenhauer fehlen ganz. Diese aber waren es, welche die alte christliche Judenfeindschaft zum Gebrauche einer immer unchristlicher werdenden Welt in eine moralisch-philosophische Aburteilung umwandelten, die den Juden nur jene Selbstaufgabe oder Ausstoßung zur Wahl ließ, die Wagner spätestens ab 1848 predigte.

Völlig verzerrt erscheint bei Scholz auch der späte Antisemitismus Wagners, von dem er behauptet, er habe sich in eine "versöhnliche Haltung" gegenüber den Juden gewandelt. Und von "Parsifal" behauptet Scholz, er sei "künstlerischer Ausdruck christlichen Mitleids- und Versöhnungsdenkens". Scholz verwechselt den allgemeinen Mitleidsbegriff mit wehleidigem Selbstmitleid einer bedrohten Grals-Elite, der die außerhalb Stehenden relativ gleichgültig sind. Auch sagte Wagner selbst, er habe bei "Parsifal" "an den Heiland gar nicht gedacht". Unbekannt ist Scholz offensichtlich auch Wagners bis vor kurzem unveröffentlichter Brief vom 31. Mai 1871 an den Verleger Fritzsch, in dem des Komponisten späte Haltung zu den Juden als purer Opportunismus erscheint. Wagner möchte vermeiden, so schreibt er, "manchen armen Teufel, der mir wohl will, vor den Kopf zu stoßen", beharrt gleichzeitig jedoch auf seiner alten Judenfeindschaft: "Die Sache aber bleibt."

Ebenso oberflächlich sind bei Scholz die Einlassungen zu Wagners Musikdramen. Scholz bestreitet keineswegs das Germanentum vieler Wagner-Figuren, bemerkt aber nicht, dass bei dem Hegelianer Wagner die These von Germanen- und Deutschtum ohne die Antithese des Ungermanisch-Undeutschen nicht auskommen kann; nach Letzterem stellt Scholz beharrlich keine Fragen, sondern widmet immerzu viel Mühe der Beweisführung, dass Judenfiguren in Wagners Dramen nicht vorkommen. Dazu reißt er viele Zitate aus dem Zusammenhang. Als Beispiel sei hier seine "Hauptentlastung" für den "Ring des Nibelungen" erwähnt, eine Stelle aus den Tagebüchern von Wagners Ehefrau Cosima, an der die Nibelungen-Zwerge als Mongolen bezeichnet werden; deshalb könnten sie, so Scholz, keine Juden sein. Scholz entgeht es, dass das Zitat aus einer Zeit stammt, in der Graf Gobineau und sein Hauptwerk "Essai sur l'Inégalité des Races humaines" (1853 - 1855) in Cosima Wagners Tagebüchern fast täglich erwähnt werden, dass das fragliche Zitat folglich im Kontext von Gobineaus System der drei Weltrassen (weiß-arisch, gelb und schwarz) zu sehen ist. Dabei werden Juden nicht als eigene Rasse angesehen, sondern "unterhalb der Arier", ohne indes zu "Gegenmenschen erklärt und verteufelt" zu werden (Dieter Borchmeyer). Folglich musste sich Wagner an der fraglichen Stelle bei seinem Bemühen, seine Werke wieder einmal in größtmöglicher Allgemeingültigkeit darzustellen, mit Gobineaus Kategorien begnügen, auch wenn er sie ungenau behandelt: "die Götter, die weiß, die Zwerge, die Gelben (Mongolen), die Schwarzen die Äthiopier; Loge der métis". Dass Mongolen in der Germanen-Nichtgermanen-Dialektik des Nibelungen-Zyklus, der nach Wagners eigenem Bekunden ja Hort seiner Weltanschauung ist, nicht den geringsten Sinn ergeben, stört Scholz nicht. Angesichts der Vielschichtigkeit des "Rings" ist Wagners Mongolen-Interpretation ein Geistesblitz, ein flüchtiger Versuch, eigene Bedeutung zu erweitern. Das ergibt jedoch keinen ernstzunehmenden Widerspruch gegen die anderen, viel schwerer wiegenden, auch werkimmanenten Bedeutungsindizien, die in Marc A. Weiners neuem Wagner-Buch dargestellt sind. Die zu Hunderten überlieferten täglichen, manchmal wohl überlegt, manchmal schnell daher gesagten Äußerungen Wagners erhalten ihr Gewicht erst, wenn sie eine logische Korrelation zur Semantik seiner Musikdramen und seiner theoretischen Schriften haben.

Ich konnte in Scholz' Buch keinerlei Entlastungsargumente für Wagners unentschuldbaren Judenhass finden, die nicht in gleicher Weise widerlegbar wären. Für das von Wagner in seinem Oeuvre so hartnäckig befehdete "Ungermanisch-Undeutsche" kommen stets nur Erklärungsmodelle in Frage, die für den Nationalismus um 1850 - und somit für Wagner - relevant waren: hauptsächlich dessen Aggressionsmuster gegen Französisches, Italienisches, Jüdisches. Dazu braucht Wagner diese Tendenzen künstlerisch nicht beim Namen zu nennen; in einem Werk, das Explizites prinzipiell vermeidet und statt dessen von der viel stärkeren Suggestivität künstlerischer Bilder lebt, müssen diese Bilder nicht aus unserem heutigen, radikal veränderten Bewusstsein, sondern aus der Kulturtradition von Wagners Zeit heraus interpretiert werden. Das Großartige von Wagners Musik bleibt auch dort erhalten, wo die Dramaturgie gefährlich "menschlich" wird.

Vergleicht man die Arbeit von Dieter David Scholz mit Marc Weiners Buch zum gleichen Sujet, so läuft der Zwist auf einen Methodenstreit hinaus zwischen jenen Forschern, die sich an eine chimärenhafte Werkimmanenz klammern, und denen, die der hermeneutischen Methode anhängen. Letztere ist für Wagner freilich gefährlich, da sie sein menschenverachtendes Denken im Werk nachzuweisen vermag, wie Weiner gezeigt hat. Unter dieser Prämisse kommt man um den Eindruck nicht herum, dass das Prinzip der Werkimmanenz lediglich missbraucht wird, um die Augen vor historischer Wirklichkeit gerade dort zu verschließen, wo man dies heute nicht mehr tun sollte.

Titelbild

Dieter David Scholz: Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur.
Parthas Verlag, Berlin 2000.
191 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3932529693

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