Schrankenloses Bewusstsein

Georg Scheibelreiter blickt auf den Grund der barbarischen Mentalität

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Epoche, zu deren Beginn die Vandalen den Rhein überschritten, die Hunnen das burgundische Reich zerstörten, die Westgoten sich im südlichen Gallien ansiedelten, ist nur dunkel bekannt. Vielleicht kommt uns noch in den Sinn, dass es eine Zeit andauernder Verheerungen gewesen sei, des Brennens und Sengens, der Plünderungen und Verschleppungen - jener Gewalttätigkeiten also, die zuletzt für die Auflösung des Römischen Reiches sorgten. Mit Georg Scheibelreiters ehrgeiziger Mentalitätsgeschichte des 5. bis 8. Jahrhunderts ist es nun erstmals gelungen, das Niemandsland zwischen dem Niedergang der Antike und dem Vorspann des Mittelalters als die Geschichte der "barbarischen Gesellschaft" in den definitorischen Griff zu bekommen. Was aber ist das spezifisch Barbarische, wenn man darunter nicht einfach den eingefleischten Hang zur Zerstörung, zur Agonie, zur Chaotisierung oder sozialen Primitivität verstehen will?

Der Barbar, lautet Scheibelreiters Antwort, steht außerhalb einer objektiven Grundordnung, die seine spontanen, aggressiven und oft maßlosen Lebensäußerungen an einen dauerhaft bestehenden Kosmos rückbindet. Dieses Ausgesetztsein und der Mangel an Lebenssicherheit sind kennzeichnend für die barbarische Mentalität. Zur existenziellen Grunderfahrung des barbarischen Menschen gehört deshalb der Krieg als selbstverständlichste Form der Konfliktbewältigung. Als unmittelbare Befindlichkeitsäußerung gehorcht die kriegerische Überrumpelung keiner Erfolgslogik. Sie ist im modernen Sinne zielblind und entfesselt sich mit kämpferischer Wucht und dem Willen zur unbedingten Durchsetzung. Dem Buch gelingt es, seinen Leser in eine Welt zu entführen, in der es weder eines ausgeprägten politischen Willens, noch langfristiger Planungen, noch eines Vorteilsstrebens bedurfte, damit sich die Menschen in äußerste Gefahr begaben.

Das barbarische Element, behauptet Scheibelreiter, fehle keiner Kultur, es könne allenfalls durch Zivilisationsideologien verschleiert werden. Das ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, denn trotz der fremdartig anmutenden Züge dieser Kultur werden mit der Verschiebung der Achse der Weltgeschichte in Richtung Norden und im Gegensatz zur mediterran geprägten Welt der Antike die Grundlagen für die Entwicklung des abendländischen Europa gelegt. Weitere Untersuchungsfelder dieser vorzüglichen Mentalitätsgeschichte sind der Wandel der steuerlichen und juridischen Verhältnisse, von Sprachkultur und Amtsverständnis sowie das Verhältnis des barbarischen Menschen zu Statik und Dynamik.

Titelbild

Georg Scheibelreiter: Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5. bis 8. Jahrhundert.
Primus Verlag, Darmstadt 2000.
670 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3896782177

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