Nun liebe auch die Nacht!

Johannes Kühns lyrische Verweigerung der Moderne

Von Benjamin SpechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Specht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literatur des neuen Jahrhunderts hat ihre ersten Symbolfiguren. Zu ihnen gehört unter anderem Michel Houellebecq, der in seinem Roman "Ausweitung der Kampfzone" eine beißende Kritik der Moderne liefert: "dieser Welt mangelt es an allem, außer an zusätzlicher Information". Doch Houellebecqs "Helden", der seine Situation und die der Welt scharf analysiert, fehlt es an Kraft, sich der Kampfzone Moderne zu entziehen. Zurück bleibt die Frage, ob es eine Verweigerung von Effizienzdenken und gefühlskaltem Liberalismus der Moderne geben kann, ohne in Fanatismus und Mystizismus zu verfallen, oder - wie bei Houellebecq - in Depression, Wahnsinn und Selbstmord.

Eine Antwort könnte aus einem Dorf im nördlichen Saarland kommen, in dem der Lyriker Johannes Kühn seit Jahrzehnten lebt und arbeitet. Nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet, tritt dem Leser eine Lyrik entgegen, die die Moderne zwar ab und an thematisiert, sich in der Art der literarischen Verarbeitung aber eigenständig behauptet.

Seit der Romantik ist die Hauptströmung europäischer Literatur geprägt von einem Ich-Begriff, der das Individuum nicht nur von der Außenwelt entfremdet, sondern außerdem in sich selbst gebrochen und zerstückelt zeigt. Auch Kühns lyrisches Ich befindet sich keineswegs in ständiger Übereinstimmung mit seiner Umwelt, aber in seiner Abgrenzung bleibt es immer eine einheitliche Größe. Die Einheit der Person beweist sich gerade in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und wird niemals grundlegend in Frage gestellt - das Ich bleibt sich seiner selbst sicher. Sogar in Texten, die wie das Gedicht "Überblick" - in Anlehnung an Hölderlins "Hälfte des Lebens" und Eichendorffs "Die zwei Gesellen" - das soziale Scheitern des Künstlers problematisieren, kann das lyrische Ich trotz seiner Zukunftsangst und Todesgedanken noch behaupten: "Immer noch hab ich den Samt aus Gras, / sommerlichen Mittagsschlaf, / und ein Genügen blas ich / in die Hände".

Es überwiegen traditionelle Themenkreise aus dem einfachen, ländlichen Leben - auch das im Unterschied zur überwiegend großstädtischen Lyrik der Moderne. Die Jahreszeiten, der Tag- und Nachtwechsel, Bäume, Vögel, die Kindheit, Märchen, ländliche Wirtshäuser, Bau- und Bergarbeiter, aber auch Krieg, Umweltverschmutzung und Dichterpersönlichkeiten wie Büchner, Hölderlin und Nelly Sachs werden literarisch gestaltet. Natürlich sind die Gedichte von unterschiedlicher Qualität; mit wenig Erfolg versucht sich Kühn etwa am Tiergedicht. Meist jedoch beherrscht er sein lyrisches Handwerkszeug souverän. Besonders im Themenkreis "Natur" ist Kühns Sprache bildreich und bleibt zugleich entschlüsselbar. Auffallend häufig sind Darstellungen des Himmels und der Jahreszeiten. In ihnen liegt ein Naturgeheimnis, von dem das lyrische Ich immer wieder fasziniert ist.

Völlig im Widerspruch zu Implikationen vieler Gedichte, bestreitet Johannes Kühns Freund und Laudator Ludwig Harig in seinem Nachwort die religiöse Thematik in Kühns Lyrik. Er behauptet: "Es sind die Geblendeten, die ihm die Wörter falsch von den Lippen lesen und ihn in höheren Sphären schweben lassen, während er brav Kontakt mit der Erde hält." Selbst wenn der Autor das vielleicht bestätigen würde, sprechen seine Gedichte eine andere Sprache. Es stimmt, dass sie nicht schwärmerisch und abgehoben sind, aber kann ein religiöses Gedicht nicht auch anders mit seiner Thematik umgehen? Der Gott der Dichter ist oft nicht der Gott der Theologen, doch wenn Kühn zum Beispiel im Gedicht "Regenbogen" schreibt: "Mordhand ändre sich zur Säerhand / auf braune Furchen streuend / Friedenskörner, daß heraufwächst Zeit / aus Segensweizen", so ist hier eine Auseinandersetzung mit alttestamentarischen Friedensvisionen nicht zu übersehen. Das Gedicht "Die Betrunkenen und ich" schließt mit den Worten: "Oh Herr, ich bin arm / [...] Doch Verse schrieben auch die Psalmisten, / und pflanzten kein Korn, / hab Mitleid!". Hier - wie so oft in Kühns Texten - ist die religiöse Anspielung offensichtlich.

Die Beschäftigung mit dem Tod findet sich sowohl in den Natur- als auch in den Personengedichten. Hier erweist sich das lyrische Ich tatsächlich als Agnostiker. Im Gedicht "Altersheim" resümiert das lyrische Ich, wie "der große Vogel Tod" die alten Leute "aus der Mitte, / aus der Ecke" herauspickt, "wie ihn die Laune reizt.". Der Rabe, die Nacht, der Winter stehen oft für den Tod, zu dem sich das lyrische Ich manchmal resignativ verhält (z. B. im Gedicht "Es wird nicht anders sein", in dem das eigene Begräbnis in seiner Banalität evoziert wird), manchmal aber auch protestierend, wenn der Tod durch Krieg besonders sinnlos und unnötig erscheint, wie im Gedicht "Reiseziele": "Und die Kaiser ritten / zu ihren Festmählern zurück. Die Toten speisten im Grabe." Johannes Kühn ist Pazifist, dies geht aus seinen Gedichten immer wieder hervor. Aber der Tod wird auch als Erlösung betrachtet: "Krähen, willkommen / euer Todesgruß, / Staub, deine Decke / über mich bald" (aus "Überblick").

In vielen liebevoll ironischen Personenzeichnungen und Stimmungsbildern - wie die Tasse Kaffee am Frühstückstisch oder der aufgegebene Steinbruch, den die Natur zurückerobert - wird ein hintergründiger und bodenständiger Optimismus spürbar, der Kühn wohl am besten gegen Gefühlskälte und Zerrissenheit der Moderne immunisiert. Trotz aller berechtigten Probleme und Ängste gilt es, sich mit dem Unabänderlichen zu arrangieren, aber nur, soweit es nötig ist. Besonders deutlich wird das im Gedicht "Nacht", das Mut machend und "realistisch" zugleich ist:

Titelbild

Johannes Kühn: Mit den Raben am Tisch. Ausgewählte und neue Gedichte. Mit einem Nachwort von Ludwig Harig.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
208 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3446199292

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