Marc A. Weiners neuer Blick

Richard Wagners antisemitische Fantasien

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede Epoche verfügt über eigene kulturelle Codes. Das sind Zeichen, die innerhalb einer abgeschlossenen kulturellen Landschaft allgemein verständlich und charakteristisch sind. Das sind auch Signale, anhand derer sich die Bewohner einer solchen Landschaft als zusammengehörig erkennen können; in gemischten Gesellschaften können solche Codes auch der Abgrenzung von Gesellschaftsteilen gegeneinander dienen. Kulturelle Zeichen in der Kunst zu verwenden, ist üblich und legitim. Mozart, Beethoven, Weber, Rossini, Meyerbeer sind frühe Meister in der Kunst, ihre Ideen dank allgemeinverständlicher musikalischer Signale nicht nur emotional erfühlbar, sondern oft auch rational erkennbar zu machen, wobei sie die bereits im Barock entstandene Klangsymbolik weiterentwickelten.

Richard Wagner differenziert die überkommenen Techniken. Die musikalischen Codes, die er verwendet, zeigen allerdings keineswegs nur das Gemeinte an. Besonders, wenn Codes volkstümlich werden und sich dem Klischee nähern, benutzt er diese gelegentlich auch, um dem Gemeinten konträre Bedeutungen zu unterlegen und so für das wahrnehmende Gefühl umzuinterpretieren. Das Schöne, das man in der Regel ja immer noch für gut und wahr hält, kann auf diese Weise klanglich verbergen, dass in der Handlung Böses getan wird; der Gestus eines Chorals kann eine menschenfeindliche Idee vordergründig hoffähig machen. Indem Wagner in den Medien Musik, Text und Dramaturgie oft gleichzeitig komplementäre oder gegenläufige semantische Muster verwendet, nutzt er die Möglichkeiten künstlerischer Diskursivität nicht nur zur Erhellung, sondern auch zur Verführung. Denn was er vor der Rationalität versteckt, bleibt dem Emotionalen nicht verborgen und vermag dort als Animosität und Vorurteil zu wirken: eine nicht ungefährliche Kunst, wie schon Nietzsche wußte, der seinen Ex-Freund Wagner mit einem warnenden "cave canem!" belegte.

Marc Weiner ist der Frage kultureller Codes bei Richard Wagner auf den Grund gegangen und hat damit der Wagnerforschung einen weitgehend neuen und exegetisch radikalen Zugang zum Werk des Bayreuther Meisters eröffnet. Er hat die textlichen, mimetischen und klanglichen "Sprach"-Bilder aufgespürt, mit denen Wagner kulturelle Allgemeinvorstellungen seiner Zeit aufgreift und in die unterschwellige und dadurch auch prekäre Dialektik der Emotionen übersetzt. Wie Weiner überzeugend darstellt, geht es Wagner in seinen Musikdramen vorrangig darum, kulturelle Ängste der Deutschen und auch ihre Hoffnungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu thematisieren. Die von angeblich Fremdem bedrohte Kultur jener Zeit wird mit den Bildern einer idealen Menschheit der Zukunft konfrontiert. Diese utopische Menschheit verkörpert sich in mythischen, indes leicht als germanisch auszumachenden Helden: Siegmund, Siegfried, Tristan, Stolzing, Parsifal. Ein Ideal kann jedoch nur leuchten, wenn es plastisch gegenüber den Schatten antagonistischer Kräfte und dunkler Antihelden hervortritt. Wagners Gegenfiguren sind antigermanisch, undeutsch. Für das deutsche Wunschdenken des 19. Jahrhunderts - staatliches Zusammenstreben, nationale Selbstfindung, nationalistische Hegemonie - waren repräsentative Antikräfte des Fremden schlechthin das Französische, das Italienische und vor allem das Jüdische: jene Kräfte, die angeblich edles Deutschtum, Treue, Gefolgschaft, Familie und den Glauben an einen für letztlich unfehlbar gehaltenen Staat zersetzten.

Das sind nicht unbedingt Themen, aus denen man eine Erfolgsoper schneidert. Doch Wagner lagen diese Themen so sehr am Herzen, dass er Mythen erfand, die vordergründig von sex and crime, auf einer zweiten Ebene auch von Verhängnis und Erlösung handeln, die jedoch auf einer dritten, teilweise verdeckten Ebene die übermächtige Ideologie von Volk und Staat in teils leicht und teils schwerer verständliche Metaphern "übersetzt". Wotan und sein Götterclan ist ein offensichtliches Bild für den Staat; Siegfried und seine Wälsungensippe ist bereits ein schwierigeres Bild bedrohten Volkstums; die Nibelungen sind ein noch schwerer auszumachender Symbolkomplex des verderblich Fremden. Weiner entschlüsselt diese Bilderwelt, die sich großenteils in der Differenz der Körperlichkeit äußert. Der Germane - zum Beispiel Siegfried - hat leuchtende Augen, einen hellen, strahlenden Blick, eine hohe Gestalt, eine volltönend gesetzte, eher tiefe Stimme, ein heldisches Schreiten, er ist naiv, emotional und kann sich nicht verstellen. Er ist deutsch - oder vielmehr: was man vor 150 Jahren dafür hielt. Doch das angeblich Deutsche ist bedroht; dramaturgisch wird es sogar immer wieder vernichtet. Die Bühnenfiguren der destruktiven Kräfte, Alberich, Mime, Hagen, Beckmesser, Klingsor äußern sich in anderen Körperlichkeiten: Meist sind sie klein, krumm, hässlich, triefäugig, hinken, schlurfen statt zu schreiten, näseln, kreischen, agieren hochnervös, sind scharfzüngige Rationalisten, verstellen sich, lügen wie gedruckt - und sinnen unablässig darüber nach, wie der blonde Held zu Fall zu bringen sei.

Weiner bringt die Aspekte des Körpers, an denen "sich die Identität ablesen ließ", auf den Punkt: Statur, Augen, Stimme, Geruch, Haarwuchs, Gestik, Physiognomie, Hautfarbe, Sexualität. Dabei lässt Weiner den Leser Schritt um Schritt verfolgen, inwiefern Wagners Positiv- und Negativbilder einem im 19. Jahrhundert verbreiteten Vokabular entstammen: Im Positiven exaltierte man Eigenes, im Negativen karikierte man "den Juden". So sollte für alle, die jene Bilder kannten, Wagners Botschaft klar sein: Das Deutschtum sei durch eine unheimliche, artfremde Macht gefährdet, die im Jüdischen kulminiert und mit den Krankheiten der Moderne, mit technischer Revolution, Materialismus, Liberalismus und Internationalismus das Eigene, Echte, Edle bedroht und vernichtet. Weiner zitiert alle ihm verfügbaren Dokumente jener Zeit; sein Buch ist so ein faszinierender Traktat über Verhältnis und Wirkungsweise semantischer Metaphern, musikalischer Gestik und dramaturgischer Mimetik.

Weiner widmet sein Buch vorwiegend den körperlichen Bildern, die auf den rassischen Unterschied zielen. Dass dies das Metaphorische von Wagners auch metaphysischem Antisemitismus etwas in den Hintergrund treten lässt, liegt in der Natur eines Buches, das einen weitgehend neuen Aspekt von Wagners Werk erstmals systematisch vorzuführen hat. Jener metaphysische Antisemitismus, mit dem der deutsche Idealismus um 1800 die alte christlich-kirchliche Judenfeindschaft beerbte, wurde bereits in dem 1999 erschienenen Wagner-Buch von Paul Lawrence Rose genauer erörtert; dieses und Weiners Buch ergänzen sich somit, auch wenn sie noch nicht alle, aber doch wesentliche Seiten von Wagners Denken und Schaffen verstehbar machen. Denn nicht zu leugnen ist, was Weiner und Rose auch andeuten, dass im Diskurs des Eigenen und des Fremden einerseits persönliche Fragen von Wagners schöpferischer Existenz, und andererseits grundsätzliche Probleme des Menschseins überhaupt anklingen. Diese Aspekte erheben sich über den speziellen historischen Konflikt des angeblich jüdisch bedrohten Deutschtums und garantieren Wagners Denken eine ungebrochene Aktualität und weitere Gültigkeit. - Über die bei Weiner gelegentlich als These, als Faktum oder als Möglichkeit angesprochene Frage, ob das Publikum Wagners Körpersprache auch verstanden hat, mag man sich mehr Klarheit wünschen; eine Rezeptionsstudie, die in Weiners Buch aus Gründen des Umfanges undenkbar war, steht als dringendes Desiderat also noch aus.

Wagner leistet den Kampf des Eigenen gegen das Fremde, ohne das Wort "Jude" ein einziges Mal im Musikdrama zu verwenden. Der Großteil der deutschen Wagnerforschung hat daraus geschlossen, Antisemitismus käme nur in Wagners kulturpolitischen Schriften vor, sei aber seiner Kunst fremd. Dies ist auch die Meinung von Dieter David Scholz, der in seinem neuen Buch, wie viele vor ihm, vom Meister des Mehrdeutigen plötzlich Eindeutigkeit verlangt. Er beurteilt diesen aufgrund einer angeblichen Werkimmanenz, wobei die Frage des Wandels von Immanenz seit 1850 radikal ausgeklammert wird. Übrigens wollte Wagner nie auf das Immanente begrenzt sein: Er betonte emphatisch, dass seine Weltanschauung (also auch Künstlerisches Überschreitendes) im "Ring des Nibelungen" den "vollendetsten künstlerischen Ausdruck" gefunden habe. Andererseits aber hasste Wagner allzu großen "Deutlichmachungseifer", denn er glaubte an die Überlegenheit der Suggestion gegenüber dem Expliziten, das Sache des Wortes, nicht aber der Kunst sei. Psychologisch hatte Wagner fraglos recht; er lieferte den Exegeten des Postholocausts jedoch die Möglichkeit, die Augen vor den Suggestionen und Obsessionen der Vergangenheit einfach zu verschließen und sich nur an das heute als werkimmanent Erkennbare zu klammern. In unserer kulturell radikal veränderten Welt, in der deutsch-jüdische Tradition faktisch ausradiert ist, können wir ohne Anleitung in der Tat nur noch einen Teil von Wagners "Botschaft" wiedererkennen, wodurch dessen Werk vielleicht "sauberer", aber auch viel enger wird: es verliert einen Teil seiner ursprünglich enormen Bandbreite, in der menschlich-unmenschliche Emotionalität sich darzustellen vermag. Diese in ihrem Ausmaß mit archäologischer Akribie zu rekonstruieren, ist Weiner bestens gelungen.

Wagners Panoptikum romantischer Ängste und Vorurteile ist in Weiners Buch spannend beschrieben, und es wurde von Henning Thies glänzend übersetzt. Dieses Buch stellt einen Meilenstein in der neueren Wagner-Exegese dar, weil es mit der Anerkenntnis des kulturgeschichtlich Unabweisbaren, dem in Wagners Kunst zutiefst verankerten Antisemitismus, die Musikdramen des Bayreuther Meisters aus dem falschen Himmel des Erhabenen in unsere Gegenwart holt, die von der Menschheitsgeißel namens Fremdenfeindlichkeit noch längst nicht erlöst ist.

Titelbild

Marc Weiner: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henning Thies.
Henschel Verlag, Berlin 2000.
478 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3894873582

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