Menschenopfer

Karim Akermas "Verebben der Menschheit?"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Warum soll sich das Geschlecht nicht sittlich verhalten und ein Ende setzen?", sinnt der namenlose Protagonist in Ingeborg Bachmanns Erzählung "Das dreißigste Jahr". Karim Akerma hat die, wie er sagt, "fundamentalethische Frage schlechthin" aufgegriffen. In seinem Buch "Verebben der Menschheit?" untersucht er, "ob es überhaupt Menschen geben" solle. Nicht eine Theodizee stehe aus, sondern eine Anthropodizee, eine Rechtfertigung der Existenz der Menschheit angesichts eines "Meeres des Leidens" und der nur allzu seltenen "Inseln des Wohlseins". Sie zu leisten sei eine Aufgabe, die in den Bereich der Metaphysik falle.

Mit argumentativer Genauigkeit und ohne eine Frage auf dem Herzen zu behalten oder gar Zweifel zu retuschieren, macht der Autor sich an die Arbeit. Trotz der Schwierigkeit des Themas und gelegentlicher Neologismen, wie etwa seinem zentralen Begriff der "Neganthropie", worunter das "Herausragen oder Heraustreten des Menschen aus einem bergenden Kosmos, aus der Geschöpflichkeit oder Sinnzusammenhängen" zu verstehen sei, ist es Akerma gelungen, einen unprätentiösen und gut lesbaren Stil zu finden. Der Band ist auch philosophischen Laien verständlich, ohne dass Akerma allerdings die Leichtigkeit, den Witz und den Esprit an den Tag legen würde, die Ludger Lütkehaus' 1999 erschienenes Buch "Nichts" auszeichnen. (Siehe "Sein oder Nichts - alles Jacke wie Hose" in literaturkritik.de 11-1999.) Bedauerlicherweise hat Akerma die Arbeiten am Manuskript bereits 1997 abgeschlossen, so dass Lütkehaus' "Vollendung des Nihilismus" unberücksichtigt bleiben musste.

Zwar, so Akerma zu Beginn seines Buch, könne nicht mit apodiktischer Gewissheit verneint werden, dass die Menschheit sein solle, da das voraussetzen würde, dass "die Arbeit an der Metaphysik" abgeschlossen sei. Dass die Anthropodizee, also die "Rechtfertigung der Perpetuierung der Menschheit" angesichts vergangenen, gegenwärtigen und des zu erwartenden künftigen Leids eine metaphysische Aufgabe sei, mag überraschen. Doch definiert Akerma Metaphysik eben gerade als "dasjenige Unternehmen", mit dem "der Mensch" die "eigene Perpetuierung zu rechtfertigen" suche. Allerdings, so fügt er sogleich an, garantiere die Notwendigkeit der Metaphysik nicht ihre Möglichkeit.

Nach einem Durchgang durch Theologie- und Philosophiegeschichte mit besonderem Augenmerk auf die "Hervorbringungspflicht in Bibel und Patristik", auf die "Reflexionen zum Seinsollen der Menschheit in der Philosophischen Theologie", sodann auf Kant und die philosophische Anthropologie und im Weiteren einigen Seitenblicken auf die "Verebbenstheoretiker" Schopenhauer und Mainländer widmet sich Akerma ausführlich dem zeitgenössischen Utilitarismus und den "Ontologien des menschlichen Seinsollens", wobei seine Auseinandersetzung mit Hans Jonas etwas langatmig und allzu ausführlich gerät.

Er wolle die Rolle des Advocatus diaboli einnehmen, indem er "das Seinsollen der Menschheit ernsthaft" hinterfrage, verkündet Akerma eingangs. Allerdings stellt sich im Laufe der Lektüre bald der Verdacht ein, dass er im Grunde ein heimlicher Verfechter der Neganthropie sein könnte, widerlegt er doch sämtliche Versuche einer Anthropodizee mit kaum verhohlener Genugtuung. Dass es ihm überzeugend gelingt, jegliche Anthropodizee zu widerlegen, bedeutet allerdings nicht, dass jeder einzelne seiner Argumentationsstränge in allen Details nachvollziehbar wäre.

Auch manchen grundlegenderen Auffassungen des Autors mag man nicht zustimmen. Selbst wenn man mit Akerma annehmen wollte, dass die "Unmöglichkeit einer außenverankerten Metaphysik" nicht zu erweisen ist, folgt daraus nicht notwendig, dass das "Verebben der Menschheit philosophisch zwar nahegelegt" werden könne, "nicht aber dogmatisch" gefordert. Denn es bleibt die Frage offen, wie eine Außenverankerung überhaupt eine Rechtfertigung von Leid ermöglichen können soll. Auch ist nicht recht einzusehen, warum er die Frage nach dem Seinsollen auf "moralische Personen" beschränkt und nicht auf leidensfähige Wesen überhaupt ausdehnt und warum er nur nach dem Seinsollen, nicht aber nach dem weitergreifenden Seinmüssen oder gar Seindürfen fragt.

Solchen meist kleineren Schwächen stehen zahlreiche originelle Gedanken gegenüber. Von Akerma selbst und von anderen, etwa von Martin Neuffer. Ihn zitiert er mit der Überlegung, dass wer "das Recht hat, nicht getötet zu werden", auch nicht geboren werden dürfte, "da er durch die Geburt zum Sterben bestimmt" werde.

Akermas eigene innovative Idee, die alleine schon die Lektüre des Buches lohnt, besteht darin, die Frage aufzuwerfen, wie ein Gott, eine "hypothetische Subjektivität", zu denken wäre, die die Perpetuierung des leidenden Daseins der Menschheit rechtfertigen könnte. Wir müssen ihr, so der Autor, die Eigenschaft zuschreiben, "an einem Verebben der Menschheit [...] schlimmer zu leiden, als die hervorgebrachten Menschen". Die Menschheit würde sich also in der stetigen Generationenfolge immer wieder einem Gott als Opfer darbringen, auf dass er nicht leide. Das Opfer bestünde also nicht darin, dass Generation auf Generation stirbt, sondern darin, dass sie in endloser Folge geboren werden.

Leben, damit ein Gott nicht leidet. In dieser Spekulation sieht Akerma die einzige Möglichkeit, eine "Pflicht zur Weitergabe menschlichen Lebens" zu begründen. Überraschenderweise kommt er nicht auf den Gedanken, dass auch diese hypothetische Entität besser nicht wäre. Denn es ist ja nicht einzusehen, wieso die Existenz einer leidenden 'höheren' Subjektivität ein Wert (an sich) sein soll. Würde nicht vielmehr der Gedanke nahe liegen, dass auch sie, eben aufgrund ihres Leidens, besser nicht wäre - zumal ihr Leiden nur unter der Bedingung des Leidens anderer, der Menschen, behoben werden kann? Statt diese Überlegung anzustellen, konstatiert Akerma - das nun allerdings zu Recht -, dass es "nicht mehr eine Frage der philosophischen Demonstration, sondern des Glaubens" sei, "Gott als einen Wert unvergleichlich höheren Ranges und am Verebben leidend" vorauszusetzen. Damit kann er zum Resümee kommen und feststellen, dass sämtliche "in Anwendung gebrachten metaphysischen Kategorien nicht in der Lage [waren], eine Anthropodizee zu leisten".

Warum also sollte das Geschlecht nicht ein Ende setzen? "Dagegen", konstatiert Bachmanns eingangs zitierter Protagonist, "wäre zufällig nichts zu sagen." - Auch von Akerma nicht.

Titelbild

Karim Akerma: Verebben der Menschheit? Neganthopie und Anthropodizee.
Verlag Karl Alber, Freiburg / München 2000.
392 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3495479120

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch