Kopff und Hertz

Über Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach jener für die deutsche Forschung lang gestreckten Initialzündung, markiert durch Frances A. Yates "Art of Memory" (1966) und Jan Assmanns "Das kulturelle Gedächtnis" (1997), beginnt sich der Diskurs über das Gedächtnis des Einzelnen und die Erinnerung des Kollektivs rasch zu diversifizieren. Bildeten jene beiden Arbeiten gleichsam die Pole einer 'klassischen' (im Stile der Warburg-Schule) und einer sozialwissenschaftlich inspirierten Kulturwissenschaft, so erschließen sich unterschiedliche Fachrichtungen diese beiden Zentralbegriffe bzw. -metaphern: kognitionswissenschaftlich, psychologisch, historiographisch, literaturwissenschaftlich, medientheoretisch. Als Teil dieser auf breiter Basis unternommenen Forschungsanstrengungen kommt nun auch der an der Gießener Universität angesiedelte Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" auf Touren; mittlerweile umfasst dessen Publikationsforum, die Reihe "Formen der Erinnerung", acht Titel. Ein Band, der auf eine Tagung von 1999 zurückgeht, soll aufgrund seines bisher zu sehr vernachlässigten Gegenstandes hier besonders gewürdigt werden.

Wenn kaum einer mehr glaubt, hat es die Kirche schwer; für die Zeit nach der Aufklärung hat sie fast apriori jede Relevanz verloren. Die Kirche und der christliche Mensch standen auf der Verliererseite der Geschichte, auch wenn sie nicht weniger dogmatisch und trotzig verteidigt wurden. Selbst für jene Epoche zwischen Reformation und der Mitte des 18. Jahrhunderts geriet die Kirche, obwohl weiterhin gestaltende Kraft, gegenüber den Tendenzen der Säkularisation, Individuation und Rationalisierung ins Hintertreffen. Religiosität und praktische Frömmigkeit waren zwar im Bewusstsein der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaften und der Philosophie präsent, werden aber erst heute langsam als Felder intensiver Forschung rekultiviert.

Für die Meditation als zentraler Form von Glaube, der Vergewisserung von Glaubensinhalten und deren affirmativer Bekräftigung gilt dies im besonderen Maße. Erst in den 90er Jahren ist eine Forschung insbesondere zur protestantischen Meditationsliteratur und -praxis entstanden, die auch außerhalb von Theologie und Kirchengeschichte wahrgenommen wird. Zu denken ist hierbei an die Arbeiten von U. Sträter oder K. Erdei und die umfassende Aufarbeitung des Pietismus in seinen vielfältigen Strömungen durch M. Brecht oder J. Wallmann. Zwar ist implizit die Bedeutung der Meditation (als betrachtendes Denken und denkendes Betrachten, Verinnerlichung und Nachvollzug der Passion Christi als Hauptgegenstand der Meditation und der emblematischen und metaphorischen Deutung von Welt in Bezug auf die christliche Heilsgeschichte) vor allem in literaturwissenschaftlichen Interpretationen auch früher mitreflektiert worden. Aber dass die Meditation vor und neben der philologischen Hermeneutik der wichtigste Modus textueller Arbeit war und sie in den Anleitungen eines Ignatius von Loyola oder unbekannterer Lichter wie Hall, Arndt, Gerhard, Moller und Scriver entscheidend die Imagination und ihren bildlichen Spielraum prägte (und sauber von der schädlichen Phantasie als gedanklichem Abschweifen trennte), das ist noch immer zu entdeckendes Neuland. Dabei wird der Beginn der klassischen modernen Subjektphilosophie mit ihrer Ausprägung des radikalen Zweifels des Ichs markiert durch die "Meditationen über die Grundlagen der Philosophie" (1641) von René Descartes - das Aufgehobensein in der göttlichen Ordnung und die Selbstvergewisserung des denkenden Subjekts konvergieren in der meditativen Versenkung des Menschen, gleichsam zwischen Seelengrund und Himmelssphäre.

Für die Phase der Frühen Neuzeit, in der also erwartungsgemäß mit den interessantesten Variationen und Transformationen von Meditation gerechnet werden kann, versucht der von Gerhard Kurz herausgegebene Tagungsband "Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit" erste Begriffsklärungen und Positionierungen vorzunehmen. Kurz sieht den möglichen Gewinn für die Forschung insbesondere in der Klärung des Verhältnisses von kollektiven Erinnerungsinhalten und erfahrener Individualität: "In Hinblick auf das heilsgeschichtlich verbürgte Allgemeinheits- und Individualisierungspotential der Meditation erscheint die übliche Entgegensetzung von Individualität und Typus, Erlebnis und Rolle bzw. Konvention als revisionsbedürftig. Allgemeinheit schließt Individualität nicht aus, konventionelle Formen nicht individuelle Erfahrung - und umgekehrt". Nun bewegen sich nicht alle Beiträge auf diesem Niveau der Fragestellung, allerdings ist es gerade die Vielzahl von Themen, Untersuchungsgegenständen und Ergebnissen, die die Lektüre zum Gewinn machen. Udo Sträter skizziert mit der Frage "Wie bringen wir den Kopff in das Hertz?" die wesentliche Bedeutung der Meditation für den Protestantismus und dessen formale Ähnlichkeit mit Modellen der Jesuiten, wie sie prominent durch die "Exercitia spiritualia" des Ignatius von Loyola initiiert wurden. Günter Butzer stellt den Konnex zwischen der Gattung der Meditations- und Erbauungsliteratur und Dichtung her, indem er die Rhetorik der Meditation untersucht: die affektsteigernden Mittel bewirken jenes psychomotorische Verfahren der Meditation, das eine Einverleibung der Heiligen Schrift und deren beständiges Wiederkauen (ruminatio) möglich macht. Jörg-Jochen Berns stellt anhand der Höllendichtungen des Justus Georg Schottelius dar, wie mittels Onomatopoesie und einem differenzierten System von Paratexten (Glossen, Anmerkungen, Bilder) versucht wurde, eine Sprache zur Darstellung des Unfassbaren zu finden. Die erweist sich jedoch gegenüber dem Betrachtungssujet als defizitär; zwar ist die von Schottelius auf der Basis der Tradition entwickelte "Techno-Hölle" für den Betrachter des 21. Jahrhunderts auf eine eigene Weise beunruhigend, das Beispiel der Hölle zeigt jedoch eher, wie die Imagination des Meditanten die Wirkungsmacht der detailreich ausgestalteten Meditationsdichtung übersteigt.

Wie fruchtbar die meditative Auslegung der Welt als Signifikat für das göttliche Wirken für die Dichtung war, belegen diverse andere Beiträge: der in diesem Zusammenhang prominenten Figur der Catharina Regina von Greiffenberg und ihren "Passionsbetrachtungen" und "Geistlichen Sonetten" widmen sich Barbara Thums und Christian Soboth. Friedmann Harzer gibt einen kurzen Abriss über die Imaginationsvorschläge im "Güldenen Tugendbuch" von Friedrich Spee. Eine besonders wirksame Linie ergibt sich von den "Occassional Meditations" des Joseph Hall für eine breite Strömung religiös motivierter Gelegenheitsdichtung in England (behandelt von Philipp Wolf) und zur physiko-theologischen Dichtung eines Barthold Hinrich Brockes. Wie Gerhard Kurz überzeugend zeigt, ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine Diversifizierung des Begriffes der "Betrachtung" eingetreten, der sich aus seinem ursprünglich meditationsgebundenen Kontext löste, säkularisierte und ästhetisierte, zur analytischen Figur in der Philosophie wandelte (wie beim eingangs erwähnten Descartes) und einer literarischen Gattung von Betrachtungsliteratur den Namen gab - im 17. und frühen 18. Jahrhundert war "Betrachtung" fast ubiquitär.

In die Sozialformen der Meditation führen Joachim Jacob, der die gesellige Frömmigkeit des Pietismus als Form pädagogisch kontrollierter Bibellektüre vorstellt, und Harald Tausch, der an englischen Beispielen zeigt, wie der Garten als Raum der Meditation genutzt wurde, ein: das Auffüllen das Parks mit emblematisch aufgeladenen Pflanzen und Gegenständen (wie Sonnenuhr und Brunnen) ermöglichte ein stationäres Versenken in das Leben Christi in der Einsamkeit der -kultivierten - Landschaft: eine hübsche Vorstellung.

Wie leicht das Thema der Bandes in Bereiche abgleitet, in denen man sich fragt, wieso der Begriff der Meditation dort überhaupt aufgegriffen wird, zeigt der Aufsatz von Manfred Koch, der nach Wandlungen des petrarkistischen Erinnerungsraums in der Lyrik Paul Flemings und Johann Christian Günthers fragt. Abgesehen von der Topik ist hier schwerlich eine Affinität zur Meditation im engeren Sinne auszumachen.

Ähnliche Bedenken ergeben sich bei Andreas Kilcher und Anita Traninger, die dem Zusammenhang zwischen Meditation und jüdischer Kabbala bzw. dem Lullismus nachspüren. Zwar sind deren Verbindungen zur Ars memorativa der Rhetorik von dem Autor und der Autorin bereits in früheren Arbeiten kenntlich gemacht worden (so in den Berns/Neuber-Sammelbänden "Ars memorativa" und "Seelenmaschinen"), aber die Beiträge hier verweisen eher auf die große Distanz, die sich zwischen unterschiedlichen kulturellen Techniken der Meditation in Judentum und Christentum auftut bzw. zwischen Meditation und der Technik der enzyklopädischen Wissensorganisation durch an sich bedeutungslose Zeichen im kombinatorischen System der lullischen "Ars brevis" und "Ars magna".

Die Aufsätze sondieren für die Fachwelt ein Feld, welches erst noch breit wahrgenommen und erforscht werden muss. Bedauernswert ist, dass ein philosophiegeschichtlicher Beitrag fehlt. Dabei hofft man, dass der vorliegende Band weder zu pflichtbewusst zitiertem, aber nur oberflächlich gelesenem Fußnotenfutter verkümmert noch die dargebotenen Ansätze zu Selbstläufern werden, und der Begriff der Meditation für jede Form von profaner Vergegenwärtigung sinnentleerend gebraucht wird. Dann würde der Titel "Meditation und Erinnerung" nur die Austauschbarkeit der Begriffe suggerieren.

Titelbild

Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000.
405 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3525354215

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