Die Verschriftlichung des Körpers und der Gefühle

Albrecht Koschorkes medientheoretische Annäherung an die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts

Von Kathrin FehlbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Fehlberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wandel der Gefühlskultur, den die literarische Bewegung der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert indiziert, vollzog sich vorrangig im Medium der Schrift. Er fällt in eine Periode, "in der sich aus der vorindustriellen, noch immer in weiten Teilen von oralen Interaktionen geprägten Welt der frühen Neuzeit heraus eine auch im Alltagsverkehr wesentlich auf literale Kommunikation gestützte Gesellschaft entwickelt." Das ist der Ausgangspunkt einer Arbeit, in der sich der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke die Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit und Einflussnahme von Gefühls- und Schriftkultur stellt. Damit soll ein medialer Prozess beschreibbar werden, der mit grundlegenden Veränderungen der Kommunikationsstrukturen einherging.

Die kulturanthropologische Untersuchung bewegt sich um die beiden Pole, die ihr den Titel geben: "Körperströme und Schriftverkehr". Um sich der im empfindsamen Schrifttum ausgeprägten Affektsemantik zu nähern, richtet Koschorke seinen Blick zunächst auf die im Zuge der Aufklärung vorgenommenen Modifikationen in den Bereichen der sozialen Beziehungen, der Wert- und Normvorstellungen sowie der damit verbundenen Modellierung der Emotionen. Die sich fast durchwegs in Opposition zu höfischen Umgangsformen setzenden Ansprüche des gebildeten Bürgertums vollziehen auf privater Ebene das nach, was in ähnlicher Weise auf ökonomischem wie politischem Gebiet angestrebt wird: die Emanzipation von überkommenen autoritativen Strukturen und die Konstitution eines autonomen Subjekts. Deutlich wird dies beispielsweise an der Abwendung von äußerlichen und veräußerlichenden Beziehungsformen hin zu einer Intimisierung und Privatheit oder an der Vermeidung offensiver Verführungstaktiken. Sie werden durch eine tugendhaft distanzierte Werbung ersetzt, welche erotische Implikationen und Körperlichkeit vergessen machen sollen.

Komplementäre Entwicklungen der Eingrenzung, Abschließung und Individualisierung, wie sie im sozialen Leben zu beobachten sind, lassen sich auf biologischer Ebene feststellen. Zum einen wird der Körper nicht länger als unvollkommener Gefäßleib begriffen, dessen Ströme durch Eingriffe wie den Aderlass reguliert werden müssen, sondern als eine in sich geschlossene, organische Ganzheit, die es zu bewahren gilt. Auch Hygienevorschriften bewirken eine deutlichere Markierung der Körpergrenzen. Zum anderen verhilft die sich neu formierende Nervenlehre den 'Seelenbewegungen' zu einem eigenständigen Status, indem ihre Vorgänge zunehmend als körperunabhängig angesehen werden.

Somit läßt sich ein "Umbau des Menschen" in verschiedener Hinsicht konstatieren: einmal als 'Abschließung' des Körpers - verstanden als Organismus wie als Sozialkörper -, andererseits als Neukonstituierung eines Subjektes, dessen Aktionsfeld sich auf einen gleichsam 'inneren' Bereich verschiebt. In diesem aber wird den Subjekten ein freierer und - auf den Komplex der Seelen- und Geistestätigkeit bezogen - breiterer und regerer Austausch ermöglicht.

Zum bevorzugten Medium wird dabei die Schrift. Wo sich die Kommunikanten und ihre Rahmenbedingungen ändern, verlangen auch die Kommunikationsformen nach einem Wechsel. Persönliche Beziehungen verlieren aufgrund sittlicher und sozialer Entwicklungen sowie der erweiterten gesellschaftlichen Mobilität ihre Grundvoraussetzung, nämlich Nähe. Die so entstehenden Fernbeziehungen brauchen als Ersatz Mittel und Wege, Distanz kommunikabel zu machen.

Dies leistet das empfindsame Schrifttum. Es stellt nicht nur die Möglichkeit zur Verfügung, den realiter verhinderten Körperströmen einen Ausfluss in der Schrift zu geben - man denke an die vielen Beschreibungen geradezu sturzbachähnlicher Tränen- und Herzensergüsse -, es vermag ebenso die getrennten Körper imaginativ und auf einem geistig-spirituellen Niveau einander anzunähern und sie zu vereinigen. Was in der körperlichen Sphäre dem direkten Zugriff entzogen wurde, wird in medialer Vermittlung wiedererstattet. Indem man sie imaginiert, wird "körperliche Liebe gewissermaßen in effigie vollzogen." Erscheint das Schreiben aus dieser Perspektive als eine Art Ersatzhandlung, wirkt es doch gleichzeitig zurück auf die Schreibenden, da das Faktum der Schriftlichkeit seine eigenen Entstehungsbedingungen gewissermaßen wieder selbst reproduziert: War die Verhinderung unmittelbarer Interaktion Ursache für eine neue Form des Ausagierens von Bedürfnissen nach Nähe mit dem Resultat einer indirekten, vergeistigten Kommunikation, so stabilisiert diese die Trennung der Körper und verstärkt die sich im empfindsamen Schrifttum ausdrückende Tendenz zum seelischen und entstofflichten Austausch.

Einen breiten Raum widmet Koschorke dem Komplex der zeichentheoretischen Aspekte seines Themas, unter anderem in kritischer Auseinandersetzung mit dem dekonstruktivistischen Schriftbegriff oder in systemtheoretischen Überlegungen zur Semiotik. Aufgegriffen werden auch die zeitgenössischen Debatten zur Problematik der Schriftlichkeit. Sie begleiten die im 18. Jahrhundert erfolgende Ablösung der Rhetorik durch die Schrift, die nicht zuletzt auf die Ausweitung des Buchmarktes zurückzuführen ist. Indem der Schriftlichkeit der Verlust an Oralität als Defizit angelastet wird - was sich unter anderem im Verdikt des "toten Buchstabens" niederschlägt -, muss sie Strategien entwickeln, dieses Manko mit den ihr selbst zur Verfügung stehenden Mitteln zu kompensieren. "Substitutionen" und "Seeleneinschreibeverfahren" nennt Koschorke dies in zwei Kapitelüberschriften. Fällt die Möglichkeit der emotionalen Affizierung in der präsenzbezogenen Interaktion weg, wird die Affekterregung über den Umweg der Medialisierung vorgenommen. Zwar sind die Zeichen an sich neutral und damit unsinnlich, doch im Verbund mit der durch sie angesprochenen Einbildungskraft können sie den Texten eine Suggestivkraft verleihen, deren Effekte, wiewohl auf einer Ebene der Imagination erzeugt, den verloren geglaubten nicht nachstehen.

Die Literatur der Empfindsamkeit ist auch hier der Ort, an dem sich diese Entwicklungen beobachten lassen. Sie war Resultat interferierender Prozesse, die im 18. Jahrhundert Umstrukturierungen der Gesellschaft, des Menschen und der Medien herbeiführten, und wirkte ihrerseits darauf ein. Albrecht Koschorkes lesenswerte Habilitationsschrift überschreitet somit den Horizont herkömmlicher Literaturgeschichtsschreibung erheblich. Als Beitrag zur historischen Kulturanthropologie bietet sie faszinierende Einblicke in den Wandel einer Schrift- und Gefühlskultur, der weit über das 18. Jahrhundert hinaus wirksam blieb.

Titelbild

Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Medieologie des 18. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
507 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3770533771

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