Liebe, Lüge und Betrug

SoziologInnen untersuchen eine explosive Interaktionsform

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1998 widmete sich in Freiburg ein Soziologiekongress den "Grenzen und Grenzüberschreitungen der Liebe". Auf ihn geht ein von Kornelia Hahn und Günter Burgart herausgegebener Sammelband gleichen Titels zurück. Die HerausgeberInnen sind am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg im Forschungsgebiet "Soziologie intimer Beziehungen" tätig. Über die in Freiburg gehaltenen Vorträge hinaus enthält das Buch einige weitere Beiträge. Sein thematisches Spektrum umfasst bikulturelle und schwule Liebesbeziehungen, Liebe und Freundschaft in der Kindheit oder das "Verhältnis von Liebe und Gewalt bei Intimpartnertötungen" ebenso wie etwa Liebe als "Testfall für die fragilen Grenzkonstruktionen zwischen Intimität und Öffentlichkeit".

Fachfremde mag es überraschen, dass Soziologen und Soziologinnen Gefühle wie Liebe ihrem Forschungsfeld zurechnen. Doch auch für das Fach selbst ist das keineswegs selbstverständlich. Die HerausgeberInnen konstatieren im Vorwort, dass die "Analyse von Liebesbeziehungen [...] bisher nicht zum Kernbestand der Soziologie" zählte und Liebe in ihrem "Anwendungsfeld [...] fast ein Fremdwort" sei. Doch wäre das "soziologische Analysepotential gerade in diesem Bereich äußerst effizient". Die Überraschung wird gemildert, wenn man erfährt, dass SoziologInnen "Liebe nicht einfach als Gefühl" begreifen - auch nicht als kulturellen Kode -, sondern als eine "Interaktionsform, die eine neue soziale Wirklichkeit schafft, eine neue soziale Struktur". Sie wird an der zitierten Stelle ohne nähere Ausführung oder Begründung sogleich auf die normative Zweierbeziehung, auf "das Paar", reduziert.

Den Band eröffnet eine Untersuchung Francesco Alberonis zur "Grenzüberwindung und Grenzziehung im kollektiven Projekt eines verliebten Paares". Gegen das psychoanalytische Verständnis der Verliebtheit als Regression setzt er die interessante These, dass sie ganz im Gegenteil "ein 'Status nascendi'" sei, also mit einer Geburt verglichen werden könne. Das tatsächliche Geborenwerden durchläuft wie die metaphorische Wiedergeburt in der Verliebtheit "drei Phasen". In der ersten wird die "alte Daseinsform [...] unlebbar". Während des "Ausbrechens" aus der alten Lebensform - eigentlich eher ein Moment als eine Phase - erleben Neugeborene wie Verliebte dann die "Erfahrung der Omnipotenz, der Euphorie und der Expansion des Selbst". Darauf folgt als letzte Phase die "Rekonstruktion" einer neuen Lebenswelt. Dieses Modell wirft zumindest zwei Fragen auf: zum einen die nach der Herkunft von Alberonis Wissen um die Erfahrung während des Geborenwerdens - auf seine Erinnerung wird er sich vermutlich nicht berufen wollen - und zum anderen, warum die ausdrücklich als neu bezeichnete Lebenswelt nicht konstruiert, sondern rekonstruiert wird. Beides lässt er im Dunkeln.

Um zu illustrieren, was den Liebenden widerfährt, wenn sie dem oder der Geliebten erstmals begegnen, greift Alberoni zunächst auf Platons Symposion zurück. Dort erzählt ein gewisser "Archibald" eine "Legende", der zufolge "die Seele die andere Hälfte ihrer selbst" sucht. Nun wird man unter den trinkfesten Gesellen des Symposions zwar vergebens nach jemandem namens Archibald Ausschau halten, vermutlich aber meint Alberoni Aristophanes und den von ihm erzählten Mythos. Allerdings gefällt Alberoni ein anderes, selbst erdachtes Sinnbild besser, da es "näher an der Realität" liege: die Liebenden als zwei für sich je harmlose Komponenten, die im Moment des Aufeinandertreffens hochexplosiv werden. Die geliebte Person sei darum "einzigartig", weil sie die zweite Komponente darstelle, die für die Explosion unentbehrlich sei.

Insgesamt ist Alberonis Darstellung des Verhältnisses der Liebenden nicht ganz frei von Widersprüchen. So ist einerseits die geliebte Person zwar "einzigartig", andererseits aber "können sehr viele und sehr verschiedene Personen" beim gleichen Menschen "Verliebtheit auslösen". Mit etwas gutem Willen ließe sich das dahingehend interpretieren, dass viele Personen für Liebende die einzigartige Bedeutung der oder des Geliebten bekommen können. Wenn Alberoni aber konstatiert, dass geliebte Personen "charismatische leader" seien, deren "Urteil" einer "Offenbarung" gleichkomme, der sich kein Liebender entziehen könne, so dürfte das kaum mit der ebenfalls von ihm vertretenen Auffassung in Einklang zu bringen sein, dass es "nie der andere", der Geliebte, sei, "der uns [die Liebenden] ändert, wir sind es, die wir uns selbst ändern, bestärkt darin durch eine externe Kraft [der/des Geliebten], die uns zu Hilfe kommt". Sind Geliebte zum einen mit schierer Allmacht über die Liebenden ausgestattet, werden sie zum anderen auf bloße Erfüllungsgehilfen zu deren Selbstveränderung herabgemindert.

Am Ende seines Textes kritisiert Alberoni einige Verhaltensweisen in Liebesbeziehungen nicht nur als falsch, sondern ausdrücklich als "pathologisch". Krankhaft sei es etwa, "bewußt bestimmte Bereiche seiner selbst" vor dem anderen zu verstecken oder ihm Lügen zu erzählen, "um einen guten Eindruck zu machen".

Ganz anders sieht das Günter Burkart. "Betrug, Unwahrheit und Machtausübung" scheinen ihm für die Liebe "kein Problem" zu sein. "Das 'betrügerische Spiel der Verführung, der Illusion, der Lockung und Täuschungen'" könne nur denjenigen als "verwerflich, ungerecht oder unlogisch erscheinen", die Liebe an Rationalität und diskursivem Wahrheitsanspruch messen.

Burkhart kontrastiert die betrugs- und unwahrheitsresistente Liebe, die zudem nicht nach Amoralität und Machtausübung frage, mit der Partnerschaft, die aufgrund ihrer Rationalität weder Macht noch Unmoral, weder Betrug noch Unwahrheit zulasse. Kurz: Liebe sei "bedingungslos", wohingegen "Partnerschaft gerade nicht auf Bedingungen verzichten" könne. Nun ist es entgegen der Suggestion von Burkart allerdings durchaus nicht so, dass Partnerschaften Machtverhältnisse per se fremd sind. Ein Hinweis auf die jährlich wiederkehrenden Verhandlungen der Tarifpartner mag zur Illustration genügen. Die Machtverhältnisse tragen nicht unwesentlich zu ihrem Ausgang bei. Fragen der Gerechtigkeit spielen hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Auch Burkarts pauschaler Befund, Liebe frage nicht nach Amoralität, Ungerechtigkeit, Lüge und Betrug, dürfte kaum die halbe Wahrheit sein. Mag man noch zugestehen, dass Liebende moralisches Verhalten und Gerechtigkeit bei ihren Geliebten nicht einklagen werden, so ist doch sicher, dass sie darunter leiden, wenn sie fehlen. Dass Burkart dies nicht in den Blick gerät, dürfte gerade daran liegen, dass Soziologie Liebe eben nicht als Gefühl begreift - wie etwa Psychoanalyse und Literaturwissenschaft es in der Regel tun -, sondern als Interaktionsform. Diese Feststellung behauptet allerdings nicht, dass beide Disziplinen einen der Soziologie gegenüber privilegierten Zugang zum Phänomen Liebe hätten, sondern versteht sich als Plädoyer für Interdiziplinarität.

Doch noch ein Weiteres lässt Burkart außer Acht: Auch wenn Liebende Gerechtigkeit und moralisches Verhalten nicht einklagen, achten sie doch umgekehrt sehr genau darauf, sich selbst den geliebten Personen gegenüber weder unmoralisch noch ungerecht zu verhalten. Menschen hingegen, die die ihnen entgegengebracht Liebe nicht erwidern, können den Liebenden gegenüber allerdings tatsächlich leicht ungerecht und unmoralisch sein. Also gerade da, wo die Liebe fehlt, treten Amoralität und Ungerechtigkeit auf, sind sie "kein Problem".

Auch bei seiner Mitherausgeberin Kornelia Hahn darf Burkhart mit seiner Feststellung, dass Liebe "auf 'Betrug', auf Unwahrheit angewiesen" sei, wohl kaum mit Zustimmung rechnen. Besteht ihr zufolge für "romantische Liebesbeziehungen" doch gerade das "Gebot der Offenheit". In der angestrebten "authentischen Beziehung" habe "das Geheimnis im Sinne eines Vorenthaltens von Information, vor allem Dinge über die subjektive Interpretation der Beziehung selbst, keinen Stellenwert." Hiermit nimmt Hahn eine Position zwischen Alberoni und Burkart ein, jedoch mit deutlicher Nähe zu Ersterem.

Um den vermeintlichen oder tatsächlichen Mängeln einer auf Liebe gegründeten Beziehung abzuhelfen, propagiert Burkart die "individualisierte Partnerschaft", die sich durch "Aufrechterhaltung eines hohen Autonomiegrades beider Partner" auszeichne. In ihr sei die "Überwindung der Unvereinbarkeit von Liebe und Arbeit, von privatem Glück und Berufserfolg" möglich. Immerhin warnt er davor, in ihr die Liebe völlig durch die Partnerschaft zu ersetzen

Titelbild

Günter Burkart / Kornelia Hahn: Grenzen und Grenzüberschreitungen der Liebe. Studien zur Soziologie intimer Beziehungen.
Verlag Leske und Budrich, Leverkusen 2000.
278 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 381002564X

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