Aller guten Dinge

Robert Gernhardts "Reim und Zeit & Co." in der Reihe Reclam

Von Johannes MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer gäbe nicht gerne einen Sammelband mit Werken Robert Gernhardts heraus? Die Aufgabe ist verdienstvoll, da Gernhardt in so vielen verschiedenen Medien und in so unterschiedlichen Zusammenhängen publiziert, dass auch der Umsichtige leicht den Überblick verliert und auf eine Zweitveröffentlichung im leicht zugänglichen Buch angewiesen sein kann. Sie ist reizvoll, weil Gernhardts Arbeiten vielfältigen Gattungen angehören: Wer Gedichte, Cartoons, kunsttheoretische Essays, Satiren, Gemälde, Erzählungen nebst Passagen aus Drehbüchern, Dramen und einem Roman zu einem neuen Ganzen zusammenfügt, hat ausreichend Gelegenheit, Witz und Erfindungsgabe, Kennerschaft und editorische Sorgfalt unter Beweis zu stellen. Und die Aufgabe dürfte lukrativ sein, denn wer Gernhardt kennt, ist von ihm begeistert und möchte andere Menschen mit dieser Begeisterung anstecken. Also schenkt man seinem Freund bei nächster Gelegenheit ein Buch des Meisters und da man nicht so genau weiß, ob der Freund auch ein Freund des klassischen Gedichtbandes ist, und weil man ihm so oft von Gernhardt gerade als dem Universalgenie vorgeschwärmt hatte, greift man eben zu einem Buch, das diesen Facettenreichtum einigermaßen vermitteln kann. Nichts schöner also, als einen Gernhardt-Sammelband herauszugeben.

Ein Problem stellt sich dabei freilich: Schon andere sind auf diesen Gedanken gekommen. Der gedachte Herausgeber sieht sich einer Phalanx von Konkurrenzprodukten gegenüber. Noch am wenigsten wird ihn die Existenz jener Sammlungen an der Sinnhaftigkeit seines Vorhabens zweifeln lassen, die sich streng auf eine literarische Gattung beschränken, wie der Band "Gedichte 1954 -1994" und dessen vermehrte Neuausgabe "Gedichte 1954 - 1997", die Satirensammlung "Letzte Ölung", die Bildgedichtsammlung "Hier spricht der Dichter" oder die Bildergeschichtensammlung "Gernhardts Erzählungen", wobei die beiden letztgenannten Bücher Zeichnungen von jeweils so großer formaler Einheit umfassen, dass man auch von Serien sprechen könnte, die lediglich vorab in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Andere Editionen spannen den Gattungsrahmen etwas weiter, wie etwa die beiden opulenten Bände "Vom Schönen, Guten, Baren" und "Das Buch der Bücher", die sich einerseits mit dem gesamten graphischen Werk, andererseits mit den wichtigsten epischen Veröffentlichungen Gernhardts befassen. Freilich können auch andere Kriterien als die künstlerische Form gewählt werden, um das zu beackernde Feld einzugrenzen, zum Beispiel ein bestimmtes Ersterscheinungsmedium ("Hört, hört", das WimS-Vorlesebuch von Robert Gernhardt und F. W. Bernstein), einzelne Motive ("Gernhardts Göttingen") oder literarische Verfahren (wie das jüngst erschienene, ganz der Imitationskunst gewidmete Bändchen "In Zungen reden"). Und schließlich treten Sammlungen auf, deren Titel schon allumfassend sind: "Über alles. Ein Lese- und Bilderbuch" sowie "Achterbahn. Ein Lesebuch." Beide Bücher - in Format, Auftritt und Verlag durchaus kontrastierend - veranstalten Streifzüge durch das Gesamtwerk. Nichts Überflüssigeres also, als einen weiteren Gernhardt-Sammelband herauszugeben?

Nein: Gernhardt und dem Philipp Reclam jun. Verlag in Stuttgart ist es tatsächlich gelungen, in dieses Dickicht von Sammlungen eine weitere zu platzieren, die nicht nur eine Lücke füllt, sondern mit unverwechselbarem Charakter eigene Maßstäbe setzt. Sie trägt den Titel "Reim und Zeit & Co." und vereinigt die drei Reclam-Universalbibliothek-Hefte "Reim und Zeit" (erweiterte Ausgabe 1999, also unter Berücksichtigung der Gedichtbände bis einschließlich "Lichte Gedichte"), "Prosamen" und "Hier spricht der Zeichner". Jedes dieser drei Hefte stellt für sich genommen eine kleine Sammlung dar. Der zusätzliche Reiz, sie in einem Band zu vereinigen, liegt zum einen natürlich darin, statt der quietschgelben Heftchen ein 415 Seiten starkes, in lindgrünes Leinen gebundenes, seriöses Buch in den Händen zu halten. Zum anderen wurde die Abteilung "Reim und Zeit" um eine Auswahl aus dem letzten Gedichtband "Klappaltar" gegenüber dem aktuellen Reclamheft ergänzt. Der Gewinn der "Gesamtausgabe" erschöpft sich darin aber beileibe nicht.

Das hängt damit zusammen, dass die drei Reclamhefte selber ganz unterschiedliche Arten von Sammlungen darstellen. "Reim und Zeit" ist eine reine Gedichtsammlung. Historisch nach den Gedichtbänden geordnet, die im Inhaltsverzeichnis nur als römische Ziffern erscheinen, lässt sie ganz das einzelne Gedicht wirken und verzichtet auf die Herstellung neuer Aussagen durch neue Kontexte. Sehr erkenntnisfördernd ist das Nachwort Gernhardts "Herr Gernhardt, warum schreiben Sie Gedichte? Das ist eine lange Geschichte": Gedichte, die einem formalen Regelsystem wie dem Reim folgen, sind nach Gernhardt stets und unabhängig von ihrem Inhalt von Komik "durchtränkt". Wichtig ist der Umstand, dass dieses Nachwort aus dem Jahr 1990 stammt. Wenn im Nachwort vom "letzten" Gedichtband die Rede ist, an dem einige Kritiker Komik vermisst haben, ist dies also nicht etwa "Klappaltar" (1998), sondern "Körper in Cafés" (1987). Das ist auch deshalb interessant (und man wäre dem Verlag für eine editorische Notiz dankbar gewesen), weil manche Kritiker denselben Vorwurf noch gegen den nächsten Gedichtband "Weiche Ziele" (1994) erhoben, ohne Gernhardts Theorien und Stellungnahmen hierzu überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

In "Hier spricht der Zeichner" eröffnet eine neue Anordnung der Zeichnungen neue Sichtweisen: Gernhardt definiert präzise die umgangssprachlich oft synonym - oder überhaupt nicht - verwendeten Begriffe Bildwitz, Cartoon, Comic, Bildergeschichte, Bildgedichte, Photogedichte und ordnet in den einzelnen Kategorien die jeweiligen Werke historisch an. Wenn zum Beispiel in der relativ kleinen Abteilung "Cartoons" in wenigen Zeichnungen Jahrzehnte überbrückt werden, kann die Entwicklung von Gernhardts zeichnerischem Stil, die er selber in "Schnuffis Sämtliche Abenteuer" (1989) beschreibt, überdeutlich nachvollzogen werden.

Mit Abstand die ambitionierteste editorische Leistung (einschließlich gewisser Veränderungen am vorhandenen Material) liegt der vom Umfang her kleinsten Abteilung "Prosamen" zugrunde. Noch dringender als für die anderen beiden Abteilungen sei dem Leser hier geraten, mit dem Nachwort zu beginnen. Gernhardt hat gerade in der Anfangszeit seines literarischen Schaffens immer wieder unpersönliche und überpersönliche Sprechweisen, wie die der Zeitungsnachricht, des Slogans und der Predigt, aufgenommen und mit neuen, Komik erzeugenden Inhalten gefüllt. Von Parodien unterscheidet diese Texte in der Regel, wie das Nachwort auch unter präziser Erklärung der Ausnahmen darlegt, dass es ihnen "nicht um Kritik an überlebten Ausdrucksweisen [...] oder um die Bloßstellung obsoleter Inhalte" ging, sondern stets um "das eigene Vergnügen". In der "Fabel" fordert etwa ein alter Uhu einen Hasen zum Wettlauf heraus, tritt vor vollbesetztem Stadion in sehr guter Form an, doch ergibt die Zielfoto-Auswertung den knappen Sieg des Hasens. Daraufhin beleidigt der Uhu das Kampfgericht und wird mit einem zweijährigen Startverbot belegt. Moral: "Wer es mit den Hasen aufnehmen will, muss sich eben sputen." Weder Äsop noch der deutsche Leichtathletikverband müssen sich hier angegriffen fühlen, für den Leser kann sich aber neben dem Lustgewinn durchaus auch Erkenntnis einstellen: Wie sehr haben Fabeln unsere Texterwartung geprägt, dass wir bei den Schlüsselworten "Wettlauf" und "Hase" wie selbstverständlich von der Niederlage des Letzteren ausgehen!

Gernhardt steigert die Unpersönlichkeit der Sprechweisen noch, indem er den versammelten Texten als Hauptüberschrift die jeweilige Textgattung gibt, und diese in die Abschnitte Berichten, Betrachten, Erzählen einteilt. Ein Beitrag, der in der WimS vom Juli 1966 unter der Überschrift "Der vergessene Mameluck - Eine notwendige Richtigstellung von Prof. Kurt Jens-Martin, Gründer des literar-historischen Archivs von Wanne-Eikel" erschien, taucht nun im Inhaltsverzeichnis des Buchs unter dem Eintrag "Das Gedenkblatt" im Abschnitt "Betrachten" auf. Nur noch die frühere Hauptüberschrift "Der vergessene Mameluck" wird als Unterüberschrift dem Text selber beigefügt. Das bietet eine gute Gelegenheit zu testen, wie sich ein Text in verschiedenen Zusammenhängen neu darstellt, und natürlich auch ein weites Betätigungsfeld für die Herausgeber einer historisch-kritischen Werkausgabe: Es fasziniert, wie "Ein Gesetz für die Menschheit" aus der fiktiven Biographie "Die Wahrheit über Arnold Hau" (1966, mit F. W. Bernstein und F. K. Waechter) im Sammelband "Achterbahn" noch zu "Die Gesetze des Arnold Hau" verkleinert wird, während es in "Prosamen" und "Reim und Zeit und Co." mit "Das Gesetz" noch selbstbewusster auftritt.

Bei allem Bedeutungswandel und -gewinn, den Auswahl und Systematisierung mit sich bringen, gewährt doch gerade dieser Sammelband auch einen tiefen, fast selbstironischen Blick auf die Herausgeberschaft: Mit der Vereinigung der drei beschriebenen Reclamhefte rutschen die drei Inhaltsverzeichnisse zu einem einzigen zusammen. Durch den jeweils eigenen editorischen Ansatz stehen dabei ganz unterschiedliche Kategorien auf derselben Ebene: Mit der minimalistisch-rationalistischen Einteilung der Gedichte nach den Ordnungsnummern der Gedichtbände korrespondieren die hochgradig wertende Kategorisierung Berichten - Betrachten - Erzählen und die in etwa dazwischen liegende Typologie der komischen graphischen Mitteilungsformen. Es wird ein streng logischer Wechselwirkungsmechanismus offenbar: Gerade weil bei den in "Prosamen" versammelten Texten sich der Autor Gernhardt damit zurückhielt, "gleich Ich zu sagen", konnte sein Herausgeber Gernhardt durch eigene Anordnung seine Person einbringen. Während der Lyriker Gernhardt, wie es sich für einen solchen gehört, schon so höchstpersönlich geschrieben hatte, dass dessen Herausgeber Gernhardt im Wesentlichen schweigendes Zusammentragen übrig blieb.

Den Dialog zwischen Verleger und Autor thematisiert Gernhardt in einer - auch in der Abteilung "Prosamen" vertretenen - Anekdote: Der gefürchtete "Hobby-Zyniker" Erwin Ullstein (ausgerechnet Erwin!) telegraphiert an Tucholsky: "Zahle Honorar rar". Dessen Replik "Liefere Beiträge träge" belohnt er mit einer Honorarerhöhung, woraufhin auch Hannes Heber (!) sein Glück versucht und an den Verleger kabelt: "Schreibe Artikel ikel." Diesen Faden möchte der Rezensent aufnehmen und den Lesern statt des zu erwartenden Resümees "Nichts lohnender also, als 'Reim und Zeit & Co.' zu erwerben", die Short Message zukommen lassen: lest sammelbaende. ende.

Titelbild

Robert Gernhardt: Reim und Zeit & Co. Gedichte, Prosa, Cartoons.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
416 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 315050032X

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