Chora und die Unhöflichkeit, höflich zu sein

Derrida über Kant und Platon

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn es eine Pflicht gibt, muß sie dann nicht darin bestehen, nicht zu sollen/müssen, ohne Pflicht zu sollen, verpflichtet zu sein, nicht zu sollen? Darin, verpflichtet zu sein, nicht 'pflichtmäßig' handeln zu sollen, auch nicht, wie Kant sagen würde, 'aus Pflicht'?" Werden einem derartig läppische Spielchen zugemutet, die zudem die tragende kantische Unterscheidung zwischen pflichtgemäßem Handeln und Handeln aus Pflicht einebnen, klappt man ein Buch üblicherweise wieder zu, zumal, wenn sie einem, wie hier, gleich auf der ersten Seite serviert werden. - Es sei denn, bei ihrem Verfasser handelt es sich um keinen Geringeren als Jacques Derrida. Nun gut, lesen wir also weiter.

Derridas Buch "Über den Namen", dessen einleitender Bemerkung "Zur gefälligen Beachtung" das obige Zitat entnommen ist, versammelt drei Essays: "Passionen", "Außer dem Namen" und "Chora". Im ersten wendet sich der Autor noch einmal dem Begriff der Pflicht zu. "Diese Pflicht, sich der Regel des ritualisierten Wohlverhaltens zu entziehen, befiehlt aber auch, über die Sprache der Pflicht selbst hinauszugehen. Man darf nicht nur aus Pflicht freund(schaft)lich oder höflich sein", heißt es dort. Und weiter: "Wir riskieren eine solche Aussage zweifellos gegen Kant." Man zweifelt, ob Derrida den Pflichtbegriff des Königsberger Philosophen so sehr missverstanden haben kann, dass er glaubt, mit diesen Sätzen gegen den Kantischen Stachel löcken zu können. Denn natürlich spricht sich Kant nicht dagegen aus, sich aus Freundschaft freundschaftlich zu verhalten. Nur ist dieses Verhalten ethisch irrelevant, da es, wie Kant sagt, aus Neigung geschieht und nicht aus Pflicht. Auch wenn Derrida sich als "Erbe" des "großen Philosophen der Kritik" bezeichnet, so scheint ihm der Kantische Pflichtbegriff ebenso gleichgültig zu sein wie der Kategorische Imperativ. Kant ist, so verstanden, nur ein prominenter Name, ein schmuckes Eingangstor zu eigenen Überlegungen, mit denen Derrida alsbald zu der Behauptung gelangt, es sei "unhöflich, nur aus Höflichkeit höflich zu sein". Denn jede Geste der Freundschaft oder Höflichkeit werde sich ad absurdum führen, wenn sie sich auf die Notwendigkeit reduziere, bloß eine allgemeine Vorschrift anzuwenden. Doch wohl mit mehr Recht reimte Wilhelm Busch: "Da lob ich mir die Höflichkeit,/ das zierliche Betrügen/ Ich weiß Bescheid, Du weißt Bescheid/ Und allen macht's Vergnügen."

Auch im Weiteren führt Derrida die Begriffe Höflichkeit und Freundschaft eng. Man sage wenig, wenn man nur behaupte, dass das "man muß" in Freundschaft und Höflichkeit "nicht von der Art der Pflicht sein dürfe". Nun verweist Derrida zwar mit der Erwähnung der Pflicht wiederum auf die Kantische Ethik, doch ist Derridas "man muß" offenbar Ausdruck bloßer gesellschaftlicher Konvention und nicht der Pflicht und schon gar nicht des Kantischen Pflichtverständnisses. Das "man muß" der Höflichkeit und Freundschaft, so Derrida weiter, dürfe "nicht einmal die Form einer Regel annehmen, und vor allem nicht die einer rituellen Regel". Tatsächlich aber verlaufen zahlreiche Höflichkeitsbekundungen von der Begrüßung bis zum Abschied nach mehr oder weniger ritualisierten Schemata, und in bestimmten Subkulturen gibt es streng festgelegte Rituale, mit denen man sich gegenseitig die Freundschaft versichert.

Die Engführung von Höflichkeit und Freundschaft scheint Derrida selbst nicht ganz unproblematisch zu sein, nimmt er doch die Überraschung des "kritischen Lesers" vorweg und betont, dass sie sich alleine darauf beziehe, dass "beide durch einen einzigen Zug vom ritualisierten Verhalten unterschieden" seien. Reduziert sich die Gemeinsamkeit zweier Begriffe jedoch darauf, dass ihnen eine bestimmte Eigenschaft nicht zukommt, sie beide mit einem bestimmten dritten unvereinbar sind - so wie Freundschaft und Höflichkeit nach Derrida nicht aus Pflicht geschehen dürfen -, dann lässt sich alles Mögliche nahezu beliebig zusammenbinden.

Nach der Erörterung von Höflichkeit und Freundschaft widmet sich Derrida wieder der Moralauffassung Kants und kommt ihr nun ganz nahe. "Wäre es denn moralisch oder verantwortungsbewußt, moralisch zu handeln, weil man über Pflicht- und Verantwortungsgefühl" verfügt, fragt er rhetorisch und antwortet entschieden: "Offensichtlich nicht." Das ist ganz kantisch gedacht, auch wenn der Königsberger Weltweise sicherlich auf die bei Derrida üblichen Rhetorikspielchen verzichtet und terminologisch genauer "moralgemäß zu handeln" gesagt hätte, und eben gerade nicht "moralisch zu handeln". Man nimmt die Affinität nach dem Vorherigen erstaunt zur Kenntnis, hängt ihr in Gedanken nach und liest in der Verwunderung fast etwas mechanisch weiter: "Es ist wenig moralisch, moralisch (und verantwortlich und so weiter) zu sein, weil man über Moralgefühl, ein Gefühl für den hohen Rang des Gesetzes und so weiter verfügt". Langsam wird man gewahr, dass sich der Passus gegen Kant zu wenden beginnt, und schon stößt Derrida seinen Dolch in das Herz der Kantischen Ethik. Denn, so schreibt er weiter, genau darin bestehe "das wohlbekannte Problem der 'Achtung' vor dem moralischen Gesetz, welches selbst 'Grund' der Achtung im Kantischen Sinne ist."

Neben der Auseinandersetzung mit Kants Ethik, die sich letztlich doch als luzide und erhellend erweist, und der üblichen Derridaismen, auf die man gerne verzichtet hätte, wie der "Beispielhaftigkeit des Beispiels[, das] offensichtlich nie die Beispielhaftigkeit des Beispiels" sei, bietet der erste Essay noch ein interessantes Bekenntnis: "Nicht, daß ich die Literatur im allgemeinen liebte, auch nicht, daß ich sie irgend etwas anderem, zum Beispiel der Philosophie vorzöge, wie oft jene meinen, die weder das eine noch das andere erkennen. Nicht das ich alles auf sie reduzieren wollte, und vor allem nicht die Philosophie. Im Grunde komme ich ohne die Literatur aus und das ist in der Tat ziemlich leicht."

Die drei versammelten Text gehen jeweils tiefer in die Geschichte der Philosophie zurück. Nach der Auseinandersetzung mit Kant lässt Derrida in "Außer dem Namen" zwei Namenlose entlang von Angelus Silesius "Cherubinischem Wandersmann" einen Dialog über den Namen Gottes und über Negative Theologie führen. Im dritten handelt er von Platon und dem Begriff "chora" in dessen "Timaios". Ausdrücklich betont Derrida, dass er den Begriff "vor aller Übersetzung geschützt" belassen wolle, und begründet das damit, dass Übersetzungen stets "in den Interpretationsnetzen gefangen" blieben. Eine für einen Dekonstruktivisten unerwartet behutsame, ja ehrfürchtige Behandlung eines Textes. Aber irgendwann kann Derrida sich dann doch nicht enthalten, zu sagen, was "chora 'heißt': von jemandem eingenommener Platz, Land, bewohnter Raum, verzeichneter Platz, Rang, Posten, zugewiesene Position, Territorium oder Region". Und wenn man zurückschlägt, so sieht man, dass sich bereits in der Vorbemerkung des Buches Übersetzungen finden: "Örtlichkeit, Ort, Zwischenraum, Stelle/Platz", von denen zumindest der "Zwischenraum" mehr als fraglich ist.

Chora nun, so Derrida, sei "weder 'sinnlich' noch 'intelligibel'", sie gehöre einer "'dritten Gattung' / einem 'dritten Geschlecht'" an, also keiner der "beiden anerkannten Seinsgattungen". Ja man könne nicht einmal behaupten, dass sie "weder dieses noch jenes oder daß sie zugleich dieses und jenes sei." Die Analyse kulminiert in der sicher zutreffenden Behauptung, dass "das Denken der chora noch die Ordnung der Polarität, der Polarität im allgemeinen, [...] in Unruhe" versetze. Chora sprengt also, wie Derrida bereits eingangs betont, das Ordnungsschema hierarchischer Binarität. Was er allerdings nicht sagt, ist, dass hierarchisch gedachte Dualismen in Platons Dialog überhaupt eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen. Hier soll zwar nicht bestritten werden, dass hierarchische Binarität das zentrale Ordnungsschema der abendländischen Kulturtradition ist, jedoch handelt es sich durchaus nicht um das einzige, auch wenn Derrida und zahlreiche andere DekonstruktivistInnen das oft nahe zu legen scheinen. Bereits der erste Satz des "Timaios" deutet darauf hin, dass hier andere Ordnungsschemata relevant werden: "Eins, zwei, drei - wo aber bleibt uns denn der Vierte, mein lieber Timaios?". Vier, das sind im "Timaios" etwa die vier Elemente, denen mit ihren verschiedenen Ableitungen eine prominente Rolle zugesprochen wird. Wichtiger noch sind vielleicht die Triaden, so diejenige von Raum, Zeit und Werden. Selbst das duale Verhältnis von Männern und Frauen, das sich noch am ehesten in das Schema hierarchischer Binarität einpasst, wird dadurch verunreinigt, dass Platon die Frauen ausdrücklich zwischen Männer und Tiere platziert. Überhaupt, so Platon, können zwei 'Dinge' nicht zueinander in ein wie auch immer geartetes Verhältnis treten, ohne ein drittes, ein "Band".

Auch wenn Derrida all das stillschweigend übergeht, bleibt doch sein überzeugender Gedanke, dass chora, "dieses triton genos [...] keine genos" sein könne, weil es ein "einzigartiges Individuum" sei, eine Singularität - oder in kantischer Terminologie: eine "Allheit". Chora bezeichne einen "abseits gelegen Platz, den Zwischenraum, der eine dissymmetrische Beziehung wahrt zu allem, was 'in ihr' ist." Hier steht der Ausdruck "Zwischenraum", anders als im Vorwort, nicht als Übersetzung von chora, sondern verweist auf das, was chora bezeichne. Und eben dem korrespondiert Platons "Band".


Titelbild

Jacques Derrida: Über den Namen. Drei Essays.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek.
Passagen Verlag, Wien 2000.
174 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3851653750

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