Pathos der Beobachtung

Franz Josef Czernins Essays zur Literatur

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nichts stimmt, nicht einmal das", heißt es in Walter Serners Dada-Manifest "Letzte Lockerung". Ein Satz, der sich nicht ohne weiteres in sein Gegenteil verkehren lässt und der wahr spricht, indem er sich der Lüge überführt. Franz Josef Czernin liebt solche und ähnliche Botschaften, die sich selbst aufheben oder auf eine Wahrheit zielen: "Wenn die Poesie alles werden kann, kann vielleicht auch alles Poesie werden." Sätze, die sich in der Umkehrung entbergen, die auf die Macht und die Moral des Wortes setzen und die Überzeugungen transportieren, die sich im besten Falle auch gegen den Strich lesen lassen.

Der Wahrspruch, dessen Gegenteil ebenso wahr ist, das Motto, dessen Inversion ins Absurde läuft, die Losung, die durch Negation in Aporien führt, der Gegen-Satz, der den Satz aus den Angeln hebt - für dies alles ist Czernin empfänglich und gewappnet. Das apodiktische Wort hat vor seinem genauen Blick keine Chance. Das kontradiktorische Wort jedoch, die "Alle Kreter lügen"-Sätze des Kreters, haben seinen Respekt. Daher wohl auch die Vorliebe für und die Beschäftigung mit Autoren wie Jorge Luis Borges und Walter Serner, Paul Valéry oder Ernst Jandl.

Franz Josef Czernin, geboren 1952 in Wien, hat sich in den vergangenen Jahren eine Sonderstellung im literarischen Raum erworben. Denn mit Erkenntnisinteresse, Genauigkeit, Schule und Systematik hat er es verstanden, seiner Doppelbegabung zur Poesie und Theorie ein beeindruckendes Werk abzutrotzen, in dem die Dichtung und das Sprechen über Dichtung einen anregenden Wettstreit austragen. Ein Ursprung dieses stetig wachsenden Wechselgesangs ist bei Paul Valéry und seinen Kritikern André Breton und Paul Eluard zu suchen. Denn am Beispiel von Valérys Aphorismen haben Breton und Eluard beobachtet, dass man die Aussage eines Satzes in ihr genaues Gegenteil verkehren und dabei Recht behalten kann. Für Czernins eigenes Werk ist diese Beobachtung folgenreich gewesen. Seine Essays, seine Natur- und seine Gelegenheitsgedichte, seine Aphorismen und Arabesken, ja noch seine Sonette haben dieses Spannungselement der Umkehrung in der Negation (und vice versa) verinnerlicht. Dabei geht es ihm nicht darum, Wahrheit zu zerstören, sondern im Gegenteil darum, im kontradiktorischen Spiel mit dem Wort, dem Satz, der Regel, der Gattung eine neue, zweite Stimmigkeit jenseits des Erwartungshorizontes zu erschaffen.

Die kritischen Töne dieser Essays überzeugen jedoch weniger. So beschreibt Czernin das fast schon religiöse "Pathos der Beobachtung" bei Peter Handke als störend und zerstörend: Das Gewicht, das auf den einzelnen und vereinzelten Sätzen seines Journals "Am Felsfenster, morgens" (1998) laste, könne den ästhetischen Bedingungen der "Wirklichkeit" ebenso wenig standhalten wie den Bedingungen des Erzählens. Man nimmt Czernin dieses Urteil nicht ab, weil er hier die Hingabe der Beobachtung verliert, die er in seinen affirmativen Texten walten lässt, wenn es ihm darum geht, "Grade des Erlesenen" zu unterscheiden, Nuancen der Begrifflichkeit zu ermitteln, das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem in seiner prinzipiellen Offenheit und Schlüssigkeit zu zeigen - in der "formellen Freiheit" für das Ziel, das sich jede Dichtung selbst gesetzt hat.

Titelbild

Franz Josef Czernin: Apfelessen mit Swedenborg. Essays zur Literatur.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2000.
124 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3933749352

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