Bruder Jakob schläft noch

Die Romane des schweizer Schriftstellers Klaus Merz

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn heute abschätzig von der ›Innerlichkeitsliteratur‹ der siebziger und achtziger Jahre gesprochen wird, dann ist damit die Tendenz - vor allem in der Prosa - gemeint, unangemessen und distanzlos vom eigenen ›Ich‹ zu sprechen und den Leser mit einer Welt zu behelligen, die lästig, peinlich und ästhetisch unerheblich ist. Ins Umfeld dieser Tendenz gehören etwa auch die Versuche von Autoren, ihre Väter und Mütter und deren historische Erblast zu bewältigen sowie das Drama der ›Beziehungskrisen‹. Drei Kreuze, daß dies alles hinter uns liegt.

Zur Ichfindung und Identitätserkundung jener Jahre gehört die Metaphorik der Reise. Auch in dem schmalen Roman von Klaus Merz, "Kommen Sie mit ans Meer, Fräulein?", ist man plötzlich zurückversetzt in diese längst abgeschlossen geglaubte Phase, stehen einem alle diese Erzählweisen von damals wieder vor Augen. Dubois, Hauptfigur und Erzähler des Romans, fährt mit dem Wagen Richtung Süden, dem Gotthard entgegen, um eine Freundin und ihr Kind zu besuchen. Die Fahrt durch die wehrhafte ›Innerschweiz‹ (die Gründungskantone der Eidgenossenschaft) ist vergeblich - Maria und ihr Sohn sind kürzlich unbekannt verzogen. Auf der Rückfahrt wird Dubois in einen Verkehrsunfall verwickelt und mit Verdacht auf innere Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Nun gibt es innere Verletzungen, die nicht körperlicher Natur sind, die man anders bewältigen muß, etwa durch eine Erzähltherapie, und Dubois tut genau das. Wie in den Erzählungen von ›Nahtodeserfahrungen‹ ziehen gelebte Bilder noch einmal vor seinem geistigen Auge vorüber: Da ist zum Beispiel der Vater (und man denkt, aha, "Väterliteratur"), der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges "zu seinen Erlebnissen gekommen war" und sie an den Sohn weitergegeben hat. Mit wenigen Strichen macht Klaus Merz uns deutlich, wie unsere Wahrnehmung von den Erfahrungen und Erzählungen anderer geprägt ist (und der Leser vollzieht es im gleichen Augenblick mit). Unsere Realitätserfahrung ist aber auch literarisch vorgeprägt, und nicht von ungefähr tritt hier ein Gastwirt und Wilhelm Tell-Darsteller auf, assoziiert man das "Fähnlein der sieben Aufrechten", wenn es heißt: "Schießen ist eine Existenzfrage".

Dubois betreibt seine Spurensicherung im Krankenhaus mithilfe eines kleinen Tonbandgerätes. In einem "nachtlangen Diktierspuk" hält er fest, was ihm durch den Kopf geht. Bemerkenswert ist, daß dieser - pardon - Innerlichkeitsroman mit der Fiktion der gesprochenen Rede operiert, aber weitgehend ohne ›Ich‹ auskommt. Dubois, obwohl selbst der Erzähler, wird wie aus der Außenperspektive geschildert, sein "Rückblendeverfahren" alterniert zwischen Du- und Er-Erzählungen und bewirkt eine merkwürdige Spannung von Nähe und Distanz. Die Nachhaltigkeit einzelner Bilder beeindruckt, der Blick des Autofahrers zum Beispiel, der das "graue Asphaltband" vor sich aufrollt und es im Rückspiegel wieder abwickelt, oder die Geschichte der Mutter, die ihr Lehrgeld als Dienstmädchen zahlen mußte: "Sie hatte für die Herrschaften ein Gedeck zu wenig aufgelegt. Der Hausherr schöpfte sich schweigend einen Berg Teigwaren auf das weiße, gestärkte Tischtuch, goß mit Verachtung Tomatensauce nach: Spaghetti Bolognese."

"Kommen Sie mit ans Meer, Fräulein?" dürfte unter dem Eindruck der Literatur der späten siebziger Jahre entstanden sein. Erstmals erschienen ist der Roman 1982 unter dem Titel "Der Entwurf", übrigens im Programm der neorealistisch argumentierenden AutorenEdition. Die eh´ schon strenge, knappe, lakonische Prosa von damals wurde noch einmal leicht gekürzt und überarbeitet. Dieser Roman hätte uns ein anderes Bild von ›Innerlichkeitsliteratur‹ schenken können, eines, das von Dynamik und Komik geprägt ist, von Unerbittlichkeit, die nicht in Wehleidigkeit umschlägt.

Der schweizer Autor Klaus Merz ist jedoch erst durch seinen kleinen Roman "Jakob schläft" (1997) einer größeren Leserschaft bekannt geworden. Dieser Roman orientiert sich an einer ganz anderen Form der Innerlichkeitsliteratur: an der von Thomas Bernhard, die spätestens seit den achtziger Jahren einen großen Schatten über die deutschsprachige Literaturlandschaft legt. Ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz - Bernhards Käuze, Bernhards Suada, Bernhards Sujets ziehen ein Imperium von (produktiven) Epigonen hinter sich her. "Jakob schläft" erzählt von einer Bernhard-Familie, in der "Kranksein den Vorrang" hat. In schmerzlosen Zeiten fügt man sich selber Schmerzen zu, gießt man sich heißes Wasser auf die Schenkel, schneidet man sich Wunden ins eigene Fleisch. Klaus Merz schildert hier eine Familie von Monstren, wie aus Bernhards Welt entstiegen: Kind Renz ist schon bei der Geburt gestorben und schläft, ungetauft, den ewigen Schlaf. Der Vater ist Epileptiker. Franz, Vaters Bruder, zündet sich mit Petroleum die eigenen Hände an, und die Dorfbuben tun es ihm nach: glühender Wundschmerz, Brandmale des Glücks. Auch die Vogelzucht des Großvaters wird durch Brandstifter zerstört, die Katze von Schlafes Bruder mutwillig ertränkt.

Es ist, trotz allem, keine trostlose Welt. Eher eine Welt, in der man Schicksalsschlägen mit Gleichmut, wenn nicht gar mit Witz begegnet - zumal das Schicksal selber groteske Züge trägt: Franz, der Feuerteufel, wandert nach Alaska aus, wo er mit zwei Eskimofrauen zusammenlebt. Er stürzt sich mit einem gestohlenen Flugzeug zu Tode. Die Großmutter betätigt sich als Wunderheilerin, doch Erfolg hat sie damit nicht. Mutter und Schwester des Erzählers sind schwermütig; Schwesters Mann altert schnell, wird klein, mager und blöde. Der Erzähler fährt begeistert Motorrad und scheucht mit der aufgebäumten Maschine die "tatsächlichen Idioten" des Dorfes von der Straße. Rammt, die Gefahr nicht achtend, mit der Schulter eine Fahnenstange: "Ihr loses Drahtseil zog mir einen blutigen Scheitel über den Schädel." Marietta, die Magd aus Italien, hat eine schöne und eine zerstörte Gesichtshälfte: Ein Soldat hat ihr im Krieg ein Auge ausgeschossen. Also nicht nur die Familie, die ganze Welt scheint krank und kaputt und in Mitleidenschaft gezogen zu sein: grobschlächtig und schrundig, fahl und verwunschen, inzestuös und morbide, und doch liegt ein intensives Glück über dieser Welt.

Titelbild

Klaus Merz: Jacob schläft. Eigentlich ein Roman. Mit Zeichnungen von Heinz Egger.
Haymon Verlag, Innsbruck 1997.
80 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3852182298

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Titelbild

Klaus Merz: Kommen Sie mit ans Meer, Fräulein?
Haymon Verlag, Innsbruck 1998.
128 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3852182700

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