Aus neuer Wirklichkeit blühen kühnre Phantasien

Peter Hacks legt seine gesammelten Gedichte vor

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein irritierender Lebensweg, auf den ersten Blick: 1928 in München geboren; 1955, dem normalen Wirtschaftsflüchtling entgegen, die Übersiedlung nach Berlin: Ost. Für kurze Zeit dann unter Brechts Einfluss; nach Konflikten mit der Kulturpolitik ein scheinbares Ausweichen in einen "unverbindlichen Klassizismus" - wie zumindest Wolfgang Emmerich in seiner verbreiteten Geschichte der DDR-Literatur behauptet. Trotz Zensur wird Hacks nach der Niederlage der DDR nicht als Widerstands- und Modeautor entdeckt. Aristokratisch postuliert er den vernünftigen, nicht den demokratischen Staat als Voraussetzung positiver Menschheitsentwicklung. Das bringt ihm Sympathien von Teilen der Restlinken ein, wohl auch vereinzelte Zuneigung von rechts, doch nicht den Applaus des Mainstreams, der die Zerstörung von Staat zugunsten einer vagen Bürgergesellschaft betreibt.

Seit einigen Monaten liegen Hacks' Gedichte in einer erweiterten Sammlung vor. An ihnen den Wechsel der Zeiten abzulesen, ist schwierig. Nur ganz wenige Lieder aus den frühesten Stücken deuten songtextartig auf das einstige Vorbild Brecht hin. Ein paar frühe, agitatorische Gedichte fehlten schon im ungefähr um ein Viertel schmaleren Vorgängerband von 1988 - sie sind unwesentlich, überwiegend an der Vorlage haftende Nachdichtungen, die Hacks zu Recht ausschied. Sein Ton, seine Verfahrensweise sind seit vierzig Jahren ähnlich. Der Aufbau des Bandes ist geblieben: In drei großen Blöcken sind die "Lieder zu Stücken", "Gesellschaftsverse" und "Liebesgedichte" angeordnet. Neues findet sich vor allem im mittleren Teil; die Liebesgedichte sind kaum vermehrt und die Theaterlieder nur durch die Gesangseinlagen aus "Orpheus in der Unterwelt" ergänzt.

Allein die durchgängige Abwesenheit modischer Spielereien in einer Zeit, die flexible Anpassung ans je Neueste als intellektuelle Qualität glaubt werten zu müssen, verweist auf die außerordentliche Dichterpersönlichkeit Hacks. Bereits bei oberflächlichem Hinsehen wird deutlich, dass er sich an überkommenen Formen orientiert. Die Entwicklung der modernen Lyrik spätestens vom Expressionismus an ignoriert Hacks souverän. Scheinbar harmonisiert er damit die Wirklichkeit auf klassizistische Weise; doch betont er so die Eigengesetzlichkeit der Poesie, der er die Funktion eines produktiven Vorscheins, nicht lediglich einer Verdoppelung des Realen zuweist: "Aus Phantasie wird Wirklichkeit. Aus neuer / Wirklichkeit blühn kühnre Phantasien. / Und wenn die Kunst, um Kunst zu sein, die Erde / Verlassen muß, zur Erde kehrt sie wieder" - so formuliert Hacks programmatisch in seinem Prolog zur Wiedereröffnung des Deutschen Theaters.

Nicht also ästhetische Kompensation, sondern ästhetische Produktivität; eine immer noch Brechtsche Kategorie, freilich mittels einer Brecht diametral entgegengesetzten Poetologie. Dabei haben Verklärung und Vertröstung keine Chance: Gerade im großen, an sinnlichem Genuss orientierten Block der Liebesgedichte ist das Bewusstsein des Materialisten, dass es nur dieses je eine Diesseits und sonst nichts gibt, dauernd präsent. Im Schlussgedicht 1988 wie 2000 figuriert der "alte Knochenmann" als "Vater der Genüsse": "Du sollst mir nichts verweigern. / Wir müssen lieben nun, / Bis einst aus freien Stücken, / Gesättigt mit Entzücken, / Wir unserer Füße Rücken / Still voneinander tun."

Mit dieser Glücksvorstellung eines erfüllten Lebens und freiwilligen Abschieds schließt der Band; und es ist solche freie Verfügung, die Hacks zur Wahl der strengen Formen veranlasst, die ihm ironische Kontrapunkte erlauben: "Dies, o einfallsreicher Daimler, war keine / Gute Idee. Vier Tage lang und Nächte / Hat mein Mädchen die Stadt verlassen", heißt es in "Anläßlich ihrer Autoreise in die nördlichen Provinzen". Ein anderes Gedicht stellt "Die Elbe" in hohem Ton als Acheron vor, mit der Bundesrepublik als Totenreich. Hacks' Totenfluss allerdings "wälzt sich zwischen / Dömitz und Boizenburg" und seine "schwarzen Wasser säumt ein Hain von Rüben": Fast stets entzieht Hacks dem Pathos, das seine geschichtlich tradierten Formen assoziieren lassen, den Boden und macht so deutlich, dass sein Morgen nicht einfach ein wiederbelebtes Gestern ist. "Rote Sommer" ist ein Gedicht überschrieben, in dem "Preußens dünkelhafte Kommunisten", während der "große Haufen" sich aus "Deutschlands nördlich milden Breiten oder Längen / Hinquält zu seinen grauenhaften Urlaubsorten", ein Bild ausgesuchter Kultur bieten. "In Linnen leichtgewandet, duftenden Batisten" erholen sie sich in ihren "Sommerresidenzen": "Dann nehmen sie den Tee aus köstlichen Geschirren, / Plaudernd vom Klassenkampf, während ein Pfau, ein bunter, / Gekrönter Mohrenvogel, mit metallnem Flirren / Durch Heckenwege schreitet und zum See hinunter."

Abwegig, hier eine Verklärung der Vergangenheit zu vermuten - als Propaganda wäre dies Gedicht untauglich, weil ohne Anknüpfungspunkt im historischen Gedächtnis. Gerade aber, indem Hacks formuliert, wie der Sozialismus offenkundig nicht war, wird deutlich, wie der Kommunismus hätte werden können. Dass die Kommunisten vom Klassenkampf plaudern, während die Massen, aus denen die Klasse besteht, sich freiwillig mit Pauschaltourismus begnügen, denunziert weder diese noch jene, sondern verweist aufs Uneingelöste einer kollektiven Befreiung. Der Anachronismus der sich bereits in den Süden wälzenden Masse einerseits, einer offensichtlich herrschenden Schicht von Kommunisten andererseits zeigt zudem, dass es sich um ein Nachwendegedicht handelt; dabei passt auch in diesem Nebeneinander realgeschichtlich wenig; Hacks' Idyllen sind bei weitem nicht so simpel, wie sie beim flüchtigen Lesen scheinen.

Seit 1988 entstanden zumeist "Gesellschaftsverse". "Kunstformen der Geschichte" war schon in der früheren Sammlung einer der gewichtigsten Abschnitte überschrieben: eine Reihe von Balladen, die scheinbar wohl geordnet chronologisch eine Reihe von Ereignissen aus Mythologie und Geschichte wiedergeben. Doch schon die älteren Gedichte vermittelten exemplarisch der Gegenwart Beispiele für das gute oder schlechte Regieren. Manche der neueren Texte reagieren deutlich auf den Untergang der DDR: "Die Gallier in Rom" etwa sind leicht mit den westlichen Siegern zu parallelisieren, und "Die dreißig Tyrannen" - Unzufriedene, die von Gnaden Spartas eine Zeit lang Athen beherrschen durften - können als Oppositionelle aus der DDR, die nun Oberwasser haben, dechiffriert werden.

Der Niederlage des Sozialismus und seinen Folgen ist der einzige völlig neue Abschnitt gewidmet: "Jetztzeit". "Jetztzeit" heißt auch das Gedicht, das diesen Abschnitt einleitet: "Seit der großen Schreckenswende / Sieht des Dichters ernstes Haupt / Sich durch neue Zeitumstände / Aller Hoffnung jäh beraubt." Das Leben scheint sein Ziel verloren zu haben: "Liebt den Sommer, haßt den Winter, / Tieferes steckt nicht dahinter. / Hin und wieder ein Gedicht / Schreibt er noch aus Dichterpflicht."

Das Understatement ist Pose; die Gedichte, die folgen, sind alles andere als bloße Pflichtübungen, sondern gehören zu Hacks' besten. Die Ablehnung des Neuen schärft noch seine Formulierungen. Gerade die Poetik der Vorwendezeit, die eine kommunistische Zukunft ästhetisch andeuten sollte, nützt paradox nun der Kritik der restaurierten Vergangenheit: sie bewahrt Hacks vor larmoyantem Selbstmitleid wie vor zornigen Tiraden, die nur in ungefähre Wut mündeten. Diese Qualität erweist sich besonders in den zahlreichen Couplets, formal disziplinierten Zweizeilern. In ihnen, wie überhaupt in Hacks' Lyrik, hat ausschweifende Metaphorik wenig Raum; die Zweizeiler wirken simpel, weil sie präzise sind: "Die Bürgerrechtler machen viel Rumor. / Arbeiterrechtler kommen seltner vor."

Hacks' klassische Haltung war nie harmonistisch, mochte sie auch im Vergleich etwa zum blutrünstigeren Heiner Müller zeitweise so scheinen. In der Nachwendezeit bleibt Hacks seiner Poetik und seiner Politik treu wie kaum jemand sonst. Spätestens im Rückblick wird die Konsequenz des Gesamtwerks deutlich: Ästhetisch wie politisch bleibt Hacks oppositionell. Seine Lyrik hat wenig Berührungspunkte mit der zeitgenössischen Literatur; nicht zu ihrem Nachteil. Die Lektüre seiner Gedichte ist ein Vergnügen auf höchstem intellektuellen Niveau. Vielleicht sollte sich nicht Hacks nach der Gegenwart richten, sondern die Gegenwart ein wenig mehr nach Hacks.

Titelbild

Peter Hacks: Die Gedichte.
Edition Nautilus, Hamburg 2000.
480 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3894013486

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