Zwischen Entscheidungskapazität und organisierter Heuchelei

Niklas Luhmanns posthum veröffentlichte Monographie "Die Politik der Gesellschaft"

Von Oliver van EssenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver van Essenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Text sei weniger als ein fertiges Buch und doch ungleich mehr als nur ein Fragment, merkt der Herausgeber André Kieserling im Nachwort zu Niklas Luhmanns jüngstem, aus dem Nachlass veröffentlichten Werk an: "Die Politik der Gesellschaft". Das Buch reiht sich sowohl vom Titel als auch von der Konzeption her ein in Luhmanns Monographien.

Wie bei jeder Abhandlung erklärt Luhmann ausführlich die allgemeinen systemtheoretischen Grundbegriffe, mit denen er operiert. Dabei bedient er sich ganz offensichtlich seines berühmten Zettelkastens. Die Ausführungen über Paradoxie, Differenzierung und soziale Systeme kehren wortgleich wieder. Das mag enervierend sein. Dem Verständnis der hochgradig abstrakten Analysen kann die mehrmalige Wiederholung allerdings auch nicht schaden.

Luhmann präsentiert sich in der Beschreibung des politischen Systems weder als der erzkonservative Technologe, als der er vielen Soziologen, vor allem Jürgen Habermas, in den 70er Jahren erschienen war, noch tritt er als Revolutionär seines Faches in Erscheinung, so wie er in den jüngsten Nachrufen ab und an dargestellt wird. Beides sind Extreme der Luhmann-Rezeption, durch die gewisse Tendenzen seines Werks überbewertet werden. Die Einstufung als konservativer Autor geht zurück auf die an Talcott Parsons orientierten frühen Analysen, bei denen Strukturen untersucht werden, die für den Erhalt des Systems sorgen. In seinem später entworfenen Konzept der Autopoiesis untersucht Luhmann stattdessen die evolutionären Voraussetzungen, durch die ein System eine bestimmte Funktion erfüllt und welche Strukturen dabei entstehen können. Die Strukturen sind wie soziale Systeme selbst geschichtlich und können durch andere, funktional gleichwertige, ersetzt werden.

In "Die Politik der Gesellschaft" beschreibt Luhmann, wie sich politische Strukturen vom repräsentativen über den souveränen, absoluten Staat bis hin zur Demokratie gewandelt haben. Die Politik trifft allgemein verbindliche Entscheidungen und nimmt für sich das Recht zum gewaltsamen Einschreiten in Anspruch. Die Staatsgewalt wird von Fall zu Fall unterschiedlich legitimiert. In der Demokratie wandelt sich die körperliche Gewalt der Herrscher gegen die Untertanen um in ein feingliedriges Geflecht von Sanktionen, intern: über den Umgang mit den Mitgliedern, extern: über Einschränkungen der Freiheitsgrade eines anderen (sozialen bzw. psychischen) Systems. Die Politik hat also zwei Flanken: eine nach innen gerichtete, die für operative Schließung sorgt. Sie macht mit der Arbeit in den Ausschüssen den harten Kern der Politik aus. Und eine nach außen, getragen vom Medium der öffentlichen Meinung.

Beide Seiten fließen im genuin politischen Medium der Macht zusammen. Es sorgt unter zunehmend komplexen Bedingungen dafür, dass sich Entscheidungen vertagen lassen. Die spezifische Funktion der Politik erkennt Luhmann folglich im "Bereithalten der Kapazität für kollektiv bindende Entscheidungen". Darin liegt die Stärke, zugleich aber auch die Schwäche der politischen Kommunikation. Es erfordert zum einen das Anhören und Ertragen pluraler Interessen, zum anderen entsteht so der Eindruck, dass doch nur geredet wird. An dieser Stelle, wo andere Autoren große kulturkritische Geschütze auffahren oder gar dem Parlamentarismus eine Absage erteilen, nimmt Luhmann das Problem gelassen hin. Die Legitimationsversuche des 'modernen' Staats vollziehen sich seiner Ansicht nach über den Appell an Werte (Freiheit, Gesundheit, Gerechtigkeit, Frieden, Wohlstand, die Liste ließe sich fortsetzen), die Konsens anzeigen, aber nicht durch Parteiprogramme verwirklicht werden können. Werte werden nicht durch eine entsprechende Realität in der Außenwelt gedeckt.

Auch die Organisation der politischen Parteien ist nicht mit dem Gesellschaftssystem identisch. Während Organisationen hierarchisch aufgebaut scheinen, bestimmt Luhmann die Gesellschaft als heterarchisch, ohne Zentrum und entgegen der Annahme aller Diskursethiker als System, in das sich die beteiligten Personen moralisch nicht mehr integrieren lassen.

Aufgrund der unterschiedlichen Differenzierungstypen (segmentär vs. funktional differenziert oder populär gesprochen: traditionell vs. ,modern') kommt es zwangsläufig zu Reibungen und Konflikten. Politiker werden von den Bürgern zu Adressaten umfassender gesellschaftlicher Anliegen gemacht. Umgekehrt nutzen Politiker diesen Effekt bei ihrer Selbstdarstellung aus. Für den kritischen Beobachter neigt das politische System zu organisierter Heuchelei.

Wiederholt geht Luhmann auf dieses Problem ein, ausführlicher als bisher auch auf die strukturellen Kopplungen zwischen Politik und Recht am Beispiel der Verfassung sowie zwischen Politik und Wirtschaft am Beispiel der Steuern. Im Großen und Ganzen erfährt der Leser hier aber nicht viel mehr, als schon in anderen Texten Luhmanns zu lesen war. Vor allem der allgemeine Teil scheint etwas breit geworden. Der Autor konnte die geplante Erweiterung um geschichtliche Fallbeispiele leider nicht mehr zu Papier bringen. Dafür liegt dem politisch interessierten Leser ein anspruchsvoller theoretischer Rahmen vor.

Titelbild

Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft.
Herausgegeben von André Kieserling.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
440 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518582909

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