Frei schreiben als erste Flucht

Mit "Das Heft" nähert sich Ines Geipel der DDR vom Rand her

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Heft. Am Messer der Ort für die Hand. Schutz vor dem, was die Dinge teilt, leichte Waffe, Möglichkeit, die Dinge entfernt zu halten. Zunächst, scheinbar oder wirklich.

Das Heft jedoch, über das Ines Geipel einen Roman legt, ist von anderer Art. Es ist, ganz Papier, der Boden für Schrift, für die Verschriftlichung einer Fremde. Es geht vor allem darum, die Dinge heranzuholen, sie mit dem Geist zu berühren und verstehbar zu machen. In ein Heft trägt eine Heranwachsende Erfahrungen ein, Begegnungen mit den Geschichten anderer.

Versetzt an eine streng geführte Schule, die dem Sozialismus getreue Töchter bilden soll, sucht das Mädchen, von der erzählt wird, im Verschriften abgefragter Lebensläufe eine Kontur für die neue Heimat. Die Protagonistin führt ihr Heft als einen Berichtsbogen vom bisher Unbekannten. Das Fremde kommt näher und bleibt dennoch in der Distanz. Die, die hier ihre Umwelt ins Heft verzeichnet, möchte Orientierung finden, will sich aber auch nicht von den Verhältnissen annektieren lassen. Sie schreibt, "damit, was geschieht, in einen Zusammenhang kommt", in eine Ordnung, von der aus sich das System interpretieren lässt, möglichst unter Umgehung von Wunden. Der Zweck lehnt sich an eine Hoffnung: "mag ja sein, daß mit Bestimmtheit nichts zu sagen ist, nicht wirklich etwas sichtbar wird und das Ende bereits beschlossen einige Meter hinter uns beginnt. Doch irgendein Muster wird sich zeigen".

Der Raum des Romans ist abgeschieden: eine ländliche Welt am Rande der DDR. Hügelland, Wald, Grenzgebiet, die Menschen "in einer Art Entzogenheit" lebend. Zentral darin die Schule, kaum zu umgehender Präsenzort des herrschenden Systems.

Die Protagonistin versucht es trotzdem. Ein pensionierter Lehrer, ein halber Freund, berichtet, dass sie "zerfleddert" wirkte von Anfang an. Inmitten der vertrauten Raummaße ist sie eine unbekannte Größe, anscheinend unberührbar von äußerer Pflicht. Sie läuft quer über die Felder, heißt es immer wieder in "Sturzläufen". Man fühlt sich natürlich erinnert an Uwe Johnson, an seine Unglücksfigur Jakob Abs, der immer quer über Gleise ging, scheinbar unantastbar.

Geipel führt ihre Kernfigur behutsam durch den Text. Und zunächst ist sie noch gar nicht da. Der erste Teil des Romans gehört Stimmen ohne figürlicher Präsenz. Man weiß nie, wer hier eine Erklärung versucht, doch ist zu spüren, dass sich das Erzählen auf nur eine Figur ausrichtet. Es sind Annäherungen aus anonymer Tiefe, quasi orphische Monologe, tatsächlich Mutmaßungen. Im Nachhinein deutlich erkennbar als Zeugenaussagen zum ganz unmerklichen Verschwinden einer, die sich nicht einordnen ließ in die Entindividualisierungsmaschinerie, die nicht stumm wurde durch kollektive Disziplin. Zur letztlichen Flucht der Protagonistin, welche in ihren Fragen und Schritten die übliche Verwaltung des Lebens störte.

Sie gilt aufgrund ihrer Sprachfähigkeit als "die Russische". Ein Fremdpartikel im Gleichmaß des Seins, unsicher zu deuten wie eine Fata Morgana. "Sie war schmal, weiß, ungeformt, hatte etwas Verschrecktes, immer wieder trat sie in unsere Runden, versuchte zu sprechen, uns anzusprechen, und wir versuchten, sie nicht zu verstehen."

Im Heft liegt der Ausgleich, eine parallele Wirklichkeit. Das Notierte dient als Vergleichsmuster, als Gradmesser für den Zustand, in dem sie sich befindet. Zwischen kritischer Ungläubigkeit und kraftloser Akzeptanz. Mit philosophischen Stacheln im Nacken. "Das Heft, von beiden Seiten zerfleddert, die fleckigen Deckel, drinnen die Nomenklatura einer Welt, die ich zu lesen, nach wie vor, nicht imstande bin."

Sie hat es benutzt, um sich freizuschreiben, einen Katalog zu erstellen, der mit jedem Satz den Ort entbehrlicher macht. Auf dem Boden dörflicher Einsilbigkeit und gegen die Ansprüche der Staatsmacht sammelt das Heft die Realität, um sie dann hinter sich zu lassen.

Das aufgeblätterte Heft zeigt Gestalten abseits der Norm. Nicht wie ein Panoptikum, eher als wehmütige Hingabe an Menschen mit verworfenen Schicksalen. Da ist die "Matroschka" genannte Köchin, die sich zunächst mit einer wachsenden Zahl von Unterröcken von den äußeren Bewegungen abzusetzen versucht, um sich dann in ihrem Haus gegen das Leben zu verschanzen gegen die Ausprägung des gesamten Lebens. Die leise Auflehnung muss scheitern, weil Widerspenstigkeit nicht geduldet wird. So wird die "verschanzte" zur abgeholten Frau - wie andere aus dem Heft zu Vertriebenen werden, weil sie sich nicht einpassen ließen ins Gemeinhin der Ideologie oder eines 'richtigen' Alltags.

Ines Geipel hat kein Buch geschrieben, das sich darauf beschränkt, die spezifische Gedankenwelt einer Außenstehenden und ihrer Umgebung zu observieren. Auch die leichte, angenehme Melancholie des Erzählens ist nur die Form, nicht das Wesen des Romans. Die Geschichten sind bestimmt von versuchter und praktizierter Regulierung der Menschen: Wie Kafkas Schloss waltet und lähmt der Staat aus der Ferne, aber wirksam. Und nutzt die Herrschsucht der Menschen aus. Über einen Lehrer steht geschrieben: "Er hat das Unzerstörte der Mädchen gesehen, und es nicht aushalten können, ihre Ganzheit, mit der sie da ankamen, er konnte es nicht ertragen, wenn etwas so da ist und wächst." So machte er sie "für ein Leben zu Protokollantinnen".

Der Leser ist ein Hinzugezogener, keiner, der die Materie gleich oder je ganz durchdringen kann. Die Motive der Russischen bleiben ihm so vage wie ihrem Umfeld. Man sieht sich einer Sprache von oft dunklem Zeichencharakter übergeben, klandestinen Erzählräumen aus dichter Poesie. Es scheint, als sei das, was sich als Landschaft, Natur, Welt zeigt, intensiv Inneres gewesen, Gefühl, Ader, Herz. Ein Text ohne den Komfort narrativer Eindeutigkeit. Das fordert, aber es fasziniert. Sich zu erinnern heißt hier, mit den Bildern zu tauchen: Strömungen ausgesetzt, die sich selbst lenken. Literarische Brillanz, sensible Poetisierungen und unhektisches Sprechen erlauben es, eine überaus intensive Beziehung zu diesem Buch aufzubauen. Ines Geipel formuliert mit ihrer Protagonistin einen Körper der Sehnsucht, eine Gestalt, die nicht schuldig geworden ist. Sie hatte das Heft, das Messer hielten andere.

Titelbild

Ines Geipel: Das Heft. Roman.
Transit Buchverlag, Berlin 1999.
157 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3887471466

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