Im Reich der Zeichen

Umberto Ecos "Kant und das Schnabeltier

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Umberto Eco ist der lebende Beweis dafür, dass sich Semiotik und Popularität nicht gegenseitig ausschließen müssen. Seit "La struttura assente" von 1968 ist Eco mit lose verknüpften Theoriesträngen international erfolgreich, das sich - um in der Sprache des Ahnvaters der Semiotik, John Locke, zu sprechen - der "doctrine of signs" verschrieben hat. Die erkennende und verstehende Haltung gegenüber der Welt ist auch Thema von Ecos voluminösem Kompendium "Kant und das Schnabeltier". Hinter dem surrealen Titel verbirgt sich eine unterhaltsam formulierte Untersuchung zu den kognitiven Grundlagen der Zeichenbildung. Aber auch der kommunikative Aspekt der Semiose, bei dem sich die betroffenen Bewusstseine über die Sinnfestschreibung und die damit verbundene Abduktion eines Zeichens einig werden müssen, wird von Eco anhand verschiedener Beispiele beleuchtet. Neben dem Schnabeltier, welches als taxonomisches Sperrgut erst in einem achtzig Jahre dauernden Verhandlungsprozess in die Zoologie Eingang gefunden hat, bezieht sich Eco auch auf die ersten Versuche der Azteken, ein ihnen unbekanntes Wesen wie das Pferd zu kommunizieren und zu bezeichnen. Dabei wandelt Eco auf den bereits im "Trattato di semiotica generale" beschrittenen Pfaden, die trichotomische Terminologie von Peirce wird erneut bemüht und ein bruchloses Kontinuum von der Wahrnehmung zur Signifikation unterstellt.

In "Kant und das Schnabeltier" führt Eco darüber hinaus auch mehrere Neologismen in die Diskussion ein: z. B. Kognitiver Typus (KT), Nuklearer Inhalt (NI) und Molarer Inhalt (MI). Das Wechselspiel zwischen dem privaten KT (mit Kant als Schema zu übersetzen) und dem intersubjektiv verhandelten und konsensuellen NI, der wiederum in den KT einzelner Bewusstseine einmündet, schildert Eco in einer sehr anschaulichen Weise. Montezumas KT von den Pferden der Spanier bildet sich über die ersten Beschreibungen von Boten und öffentlichen Diskursen (NI). Erst nachträglich wird durch eigene Anschauung und eigene Gespräche mit den Eroberern aus dem KT Montezumas ein MI, ein erweitertes Wissen. In Abwandlung einer kleinen Schrift von Kant könnte man Ecos Thema mit "Sich im Zeichenprozeß orientieren" betiteln und treffend zusammenfassen. Schwerpunkt seiner Untersuchung wäre somit der Prozess, der aus einer Vielzahl von solipsistisch angeeigneten Perzepten ein intersubjektiv Gültigkeit beanspruchendes Zeichensystem entstehen lässt.

Auffällig ist, dass Ecos Untersuchung gezielt die Phänomenologie ausblendet, wenn nach dem proto- oder präsemiotischen Status der Wahrnehmung gefragt wird. Eine "Genealogie des Seins", also eine schöpferische Wahrnehmung der Welt, wie sie Merleau-Ponty angedacht hat, liegt scheinbar nicht im Fragehorizont Ecos. Eine verständliche Entscheidung, da Merleau-Ponty die positive Unbestimmtheit unserer Wahrnehmung nicht nur in dem diakritischen Akt der Wahrnehmung begründet sah, sondern auch in den Dingen selbst. Durch ein phänomenologisches Verständnis von Wahrnehmung als Prozess der Gestalt- und Strukturbildung geriete Ecos logozentrische Semiotik ins Schlingern, da damit neben einer Heteronomie der Wahrnehmung auch eine Gleichzeitigkeit von Er- und Verunmöglichung behauptet würde. Unsere Wahrnehmung ist ein ständiger Entscheidungsakt - William James sprach in diesem Zusammenhang sogar treffend von "discrimination", der zum Teil dem "Aufforderungscharakter" (Lewin) der sinnprovozierenden Dingwelt geschuldet bleibt: Eine Einsicht, die sich nicht recht in das Bild einer Semiose fügt, die ihren absoluten Anfang in der ersten Begegnung mit dem Fremden (Schnabeltier, Pferd) sucht. Zwar instituiert zweifellos die Wahrnehmung die Semiose, doch Eco erschwert sich die Beantwortung der Frage nach den Gründen, die zu einer Hervorbringung von Zeichen führen, durch eine konstruktivistische Selbstbeschränkung: Er konstatiert einen psychischen Apparat, der in Gestalt einer Black Box ein nicht näher begründetes "noli me tangere" auszusprechen scheint. Somit dient als philosophische Basis seiner Untersuchung eine Verschränkung von Sprache und Sein, die zu einem Chiasmus der modi significandi und modi essendi führt. Die Keime der Sprache entwickeln sich aber nicht zu einem entgrenzt luxurierenden Gewucher, sondern die Sprache konstruiert das Sein innerhalb von Grenzen. Diese Resistenzlinien des Seins bedeuten für Eco aber keine Negation der hermeneutischen Aktivität, sondern fundieren diese. Die ständige Befragung der Welt ist für Eco notwendigerweise innerhalb dieser Grenzen nur als vernunftgeleiteter Progress zu bezeichnen. Selbst das explizit Unmögliche in dichterischen Texten, die bewusst ihren Weltbezug suspendieren, erinnert uns laut Eco nur an die Maßlosigkeit unserer Wünsche - eine eigentümlich prosaische Ansicht für einen auch schriftstellerisch wirkenden Professor. Die virulente Frage nach der Wahrheit unserer Aussagen über die Welt basiert einerseits auf einem Übermaß an tastenden und perspektivisch verkürzten Wahrheiten, andererseits zwingt die Welt uns ständig zu einer Revision und Falsifizierung unserer Wahrheiten. Eco hat sich bereits in "Die Grenzen der Interpretation" von dieser Popper nahe stehenden positivistisch-teleologischen Seite gezeigt und damit deutlich gemacht, dass die Postmoderne, als deren populärer Protagonist Eco ebenfalls gilt, auch eine latent konservative Geistesströmung bezeichnet, die eines kontrafaktischen Möglichkeitssinns entbehrt. Die Beantwortung der Frage, wer darüber entscheidet, was an den angeblichen Resistenzlinien der Faktizität zu scheitern hat, bleibt uns Eco jedenfalls schuldig. Man braucht nicht so undifferenziert zu argumentieren wie Roland Barthes, der Sprache als faschistisch decouvrierte, da sie zum Sagen zwinge, jedoch hätte Eco gerade als homo academicus durchaus bedenken können, dass die Semiose nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern auch von Macht und Anerkennung ver- und geformt wird. War es nicht Eco selbst, der im "Trattato di semiotica generale" von 1975 die Arbeit der Zeichenerzeugung auch als eine Form der Sozialkritik ansah?

Zusammenfassend ist die taxonomisch "richtige" Einordnung des Schnabeltiers sowohl ein Indiz für die Offenheit einer Nomenklatur als auch Indiz für die Hegemonie dieser Theorie über das Handeln und die damit kultur- und sprachspezifisch limitierte Erkenntnisfähigkeit. Die Außerordentlichkeit und das Skandalon des Schnabeltiers ist mit der "richtigen" Einordnung nicht zu ihrem Ende gekommen und stillgestellt, sondern demonstriert vielmehr die Willkür unserer sprachlichen und wissenschaftlichen Taxa. Nicht die Vernunft, wie es der Holmes und Dupin-Adept Eco gerne sähe, triumphiert, sondern in Gestalt eines Schnabeltiers obsiegt die Provokation des Unmöglichen über die Kontingenz der Fundamente unseres Ordnungssinns.

Titelbild

Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
568 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3446198695

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