Singende Dünen

Raoul Schrott führt uns in die Wüste

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fließendem Sand, so scheint es, wohnen die Geräusche der Welt inne: das Brüllen eines brünstigen Stieres, Hundegebell, der tiefste Ton eines Cellos. Die Klänge sind verschieden wie die Erdteile, auf denen Dünen wandern, sie werden den sich reibenden Teilchen auf unterschiedliche Weise entlockt: durch den Wind, durch den Aufstieg oder Abstieg an einer ganz bestimmten Stelle der Düne.

Seine Leidenschaft für die Wüste teilt der Erzähler der Geschichte mit dem ungarischen Professor Török und mit Raoul Louper, dem Protagonisten. Der Erzähler gibt sich spröde, will sich nicht fassen lassen: er schwebt über den Dingen. Er fokussiert einzelne Begebenheiten in Raouls Reisen, zunächst aus der Distanz. Doch reist er dann mit Raoul, begleitet ihn und seine Weggefährten, nähert sich ihm an. Er wohnt den Liebesnächten seines Schützlings bei, er legt Steine in der Wüste aus, die als Wegweiser dienen sollen, er fasst gar Elif, Raouls Geliebte bei den Händen. Dennoch unbemerkt, engelsgleich: "Von mir war kaum die Rede, ich weiß. Ich höre Elif jetzt zu, wie sie erzählt, Elif, die dort im Stuhl sitzt, die Augen groß und glänzend in der Dämmerung. Raoul hat..., sagt sie; aber ich bin nicht Raoul."

Und dann gibt es noch einen Raoul - den Autor der Geschichte. Er ist noch ein Stück jünger als sein 43-jähriger Protagonist, jedoch habilitierter Literaturwissenschaftler und vielfach ausgezeichneter Lyriker. Neben zahlreichen Stipendien wurde ihm 1995 der Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt zugesprochen. Raoul Schrott gehört zu den meistbeachteten jüngeren Autoren der Gegenwart. Mit der "Wüste Lop Nor" hat er nun eine Novelle in hundert und einem Kapitel geschaffen. Sie beginnt und schließt mit dem Bild der Sanduhr: visualisierter Zeit. Dieses Bild vereinigt die beiden Leitmotive der Geschichte. Sie haben dasselbe Maß: Die Zeit verläuft in großen Wellen wie der Sand; die vielen Details werden verschüttet. Minuten oder Tage sind auf Weltreisen nicht von Bedeutung, ebenso wie Sandkörner nicht einzeln zu zählen sind.

Die Novelle ist knapp gehalten, einhundertzwanzig Seiten lassen kaum Platz für längere Episoden. Aufs Wesentliche beschränkt, möchte man sagen - doch das ist es nicht. Wesentliches ist nicht Thema der Geschichte - alles fließt. Gar die Lithografie wird angesteckt, und so wellt sich selbst der Kapitelrand wie ein Bildgedicht. Was Auge und Ohr bewusst erfassen, wird notiert: Farben, Töne, Motive. Sie finden sich wieder, sie greifen einander auf und werden variiert. Ein Kreis bildet sich, dessen Teil auch Francesca, Arlette und Elif sind, die drei Frauen im Leben des Protagonisten. Die Frauen in seiner Erinnerung zu trennen, fällt Raoul (im Gegensatz zu seinem Erzähler) nicht leicht, und das ist auch nicht nötig: Ob auf Elif wieder Francesca folgt oder eine weitere Frau mit dem Anfangsbuchstaben F im Namen - wer weiß. Der Ruhelose zieht weiter seine Kreise, harrt an der Küste dem nächsten Impuls, der ihn fortnimmt in die Welt, in die Wüsten, zum singenden Sand.

Titelbild

Raoul Schrott: Die Wüste Lop Nor. Novelle.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
128 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3446199217

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