Erzählen bis zum bitteren Ende

Über Johann Lippets neuen Roman "Die Tür zur hinteren Küche"

Von Gabriele WeingartnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Weingartner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Leben war ein Roman. So sagt man gelegentlich im Nachruf auf einen Menschen, dessen Biographie in abenteuerlichen Kurven verlief. Nicht zuletzt das Außergewöhnliche, ja Skandalöse, das manche Lebenläufe auszeichnet, will man damit umschreiben: exotische, erotische, skurrile Verwicklungen, die eine Frau oder einen Mann der so genannten Normalität entreißen.

Umgekehrt aber eignen sich solche Figuren auch bestens dazu, in Romanhandlungen integriert zu werden. Nichts schätzen Leser mehr als heillose Wirren, die fiktiven Personen widerfahren. Emotional ist man da sozusagen auf der sicheren Seite, denn was hat ein Stück Prosa mit dem Leben zu tun? So schlimm, wie es sich in manchen Romanen gebärdet, kann es doch in Wirklichkeit gar nicht sein.

Wie aber reagiert man auf einen Roman, von dem man weiß, dass er Geschichten verhandelt, die so oder nur wenig anders tatsächlich passiert sind? Kann man sich da als Leser gefühlsmäßig heraushalten? Verstellt die literarische Fiktion die Sicht auf das wahre Leben, von dem da erzählt wird? Oder verhindert literarische Wertschätzung gar die wahre Empfindung?

Dies sind die Fragen, die man sich während und nach der Lektüre von Johann Lippets Roman "Die Tür zur hinteren Küche" immer wieder stellt. Der rumäniendeutsche Schriftsteller, 1987 nach Heidelberg gekommen und dort geblieben, hat in seinem neuen Buch in der Tat die Geschichte seiner Familie erzählt. Dass es die pure Realität ist, von der er berichtet, kann man auch an den Stationen seiner eigenen Biographie erkennen, die darin getreulich wiederkehren: die Dorfkindheit, das Germanistikstudium in Temeswar, Lehrerdasein und politische Unterdrückung, schließlich die Ausreise.

Aber es ist doch zugleich eine Art von Wirklichkeit, die alle Banater Schwaben erlitten, die damals Ceau?escus Terrorsystem zu überstehen und ihre Sprache zu retten versuchten, enteignet wurden, im Kollektiv arbeiten mussten, sich "arrangierten" mit privat betriebenem Gemüseanbau, ihre Familie damit durchbrachten und wenigstens eine Zeitlang ein auskömmliches Leben hatten. Spätestens in den siebziger Jahren jedoch war es vorbei mit dem ohnehin lasch gewährten Minderheitenschutz, es verarmten und verkamen die Dörfer, aus den ehemals wohlhabenden Bauern wurden Tagelöhner, die ihre Kinder, Eltern und Großeltern verließen und in die Städte gingen. Oder sie emigrierten nach qualvollem Warten und Zeiten der schlimmsten Repression und ließen lange nichts von sich hören. Ziel war die Bundesrepublik Deutschland, und dort führten sie dann ein völlig anderes Leben.

Johann Lippet tut also zweierlei: Er erzählt die Geschichte seiner eigenen Familie und zugleich die Geschichte jener Volksgruppe, die von Maria Theresia und Joseph II. im 18. Jahrhundert zur Kolonisation ins Land gerufen worden waren. Er ist zugleich geschichtsbewusst und dennoch höchst persönlich-privat, ohne das eine oder das andere zu verleugnen. Denn die Eheleute Lehnert, die mit ihren vier Kindern aus dem sicheren Österreich nach Rumänien zurückkehrten, weil ihnen dort ein Haus und ein Stück Land versprochen wurden, sind ungemein exemplarisch bis zu ihrem bitteren Ende. Und andererseits bieten sie so immens viel Stoff für bizarre Geschichten, dass sie sich fast zwangsläufig in höchst funktionale Romangestalten verwandeln.

Hier schließt sich denn auch der Kreis. Es gibt Menschen, die haben eine im Wortsinn skandalöse Biographie, weil eine wahnsinnig gewordene Politik ihr Leben völlig durcheinander brachte, und solche Lebensläufe gab es häufig im vergangenen Jahrhundert. Hier hat die Geschichtsschreibung noch viel aufzuarbeiten am unteren Ende der Bevölkerungspyramide. Wenn aber ein Schriftsteller sich dieser Zeitläufte annimmt und daraus einen Roman macht, so kann daraus Literatur werden. Wenn der Leser Glück hat. Bei Johann Lippet ist dies der Fall. Und seine persönliche Betroffenheit schärft erfreulicherweise eher seinen Blick, als dass sie ihm Sentimentalitäten gestattete.

Wenngleich er also beträchtliche Sorgfalt darauf verwendet, die Sitten und Gebräuche der Banater Schwaben so authentisch wie möglich zu schildern, ja die längst nicht mehr existierende bäuerliche Lebenswelt zu bewahren sucht, indem er sie fast emotionslos abbildet, tut er doch viel mehr als dies. Wie Herta Müller, die gleichfalls die alten Gefilde nicht verlassen kann, obwohl sie schon seit mehr als zwanzig Jahren in der Bundesrepublik lebt, betreibt auch dieser Autor Mentalitätsgeschichte, lässt Charaktere erstehen, die dadurch lebendig werden, dass sie miteinander in Beziehung treten und dabei Gefühle entfalten, deren gesellschaftliche Voraussetzungen längst nicht mehr existieren.

Es sind breit gefächerte, ritualisierte Familienbande, die Lippet akribisch, ja fast gemächlich beschreibt, Feindschaften, Liebschaften, nachbarliche Gepflogenheiten und Animositäten. Vettern, Basen, Tanten, Onkel, Schwägerinnen und Schwäger, Freunde und Freundinnen. Lehrer, Traktoristen, Unangepasste und Angepasste. Durch die Tür zur hinteren Küche im Haus der Lehnerts im Dorf Wiseschdia kommen sie alle, frohlocken und klagen, treiben Handel, tauschen Klatschgeschichten aus, intrigieren, helfen einander in stiller Opposition zum totalitären Staat, mit dem man nichts zu tun haben will, solange er einen nur in Ruhe lässt.

Erst die Kinder und Enkel dieser ersten Nachkriegsgeneration geraten unweigerlich in Gegnerschaft zum Regime, haben mit Indoktrination, Zensur, ständiger Gängelung zu kämpfen. Und sind doch auch längst nicht mehr bereit, ihre persönlichen Bedürfnisse hinter jene festgefügten Familienstrukturen zurückzustellen, die sie vor dem staatlichen Zugriff emotional vielleicht noch eine Weile geschützt hätten. Lippet ist allerdings weit davon entfernt, die Starrheit der herrschenden Konventionen zu romantisieren. Familien sind bisweilen gleichfalls totalitäre Systeme.

Aber er erzählt dennoch bis in die kleinsten Verästelungen die Geschichte seines weit verzweigten Clans, wobei das Ehepaar Lehnert und seine Kinder im Zentrum stehen: unaufgeregt, ohne poetische Übertreibung, frei von jeder auftrumpfenden Redseligkeit, in kurzen, geradlinigen Sätzen, mit vielen knappen Dialogen, die die bäuerliche Redeweise wieder aufleben lassen, die gleichfalls ohne Umschweife vonstatten ging. Die Beschreibung von Mangel und Ärmlichkeit bedarf nicht der Eleganz, sondern der Präzision.

Beeindruckt freilich wird der Leser zunehmend von der stillen Beharrlichkeit, mit der der Autor den einzelnen Lebensläufen nachgeht und dabei doch immer in der gleichen inneren und äußeren Landschaft bleibt: Nie lässt er es zu, dass jemand in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, jedes Familienmitglied ist gleich wichtig, keines geht verloren.

So wird denn auch wirklich erzählt bis zum bitteren Ende. Die drei Töchter Anton Lehnerts gehen in den Westen, der Sohn stirbt unter mysteriösen Umständen an der Grenze zu Jugoslawien, die Ehefrau an Krebs. Und auch der Bauer selbst wird Opfer des Systems und bei einer Ausweiskontrolle erschossen. "Leck mich am Arsch" sagt er zu dem Soldaten, der ihn aufhalten will, wahrscheinlich war dies die einzige widerständige Bemerkung in seinem ganzen Leben. Als Leser empfindet man deshalb Respekt vor Anton Lehnert, aber auch Entsetzen vor der grässlichen Leere, die sein plötzlicher Tod bedeutet.

Die Familie, die am Anfang des Romans in ein neues Leben aufbrach, existiert nun nicht mehr. Und Johann Lippet bietet keinen Trost an, womit man die Leere füllen könnte - nur ein Buch, das sie für immer dem Vergessen entreißt.

Titelbild

Johann Lippet: Die Tür zur hinteren Küche. Roman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3884231693

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