Ein Meilenstein auf dem Weg zur Aufarbeitung

Das Jahrbuch des "Research Centre for German and Austrian Exile Studies"

Von Andrea HammelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Hammel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Britische Forscher traten der internationalen Gemeinschaft der Exilforscher erst spät bei. In den letzten Jahren jedoch machten sie durch ihre Aktivität auf sich aufmerksam, unter anderem durch die Gründung eines Research Centre am Institute for Germanic Studies an der University of London zur Erforschung des deutschsprachigen Exils. Der vorliegende erste Band des Jahrbuchs, das von diesem Zentrum herausgegeben wird, ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Aufarbeitung der Biografien und Werke deutschsprachiger Exilanten im britischen Exil.

Der Band beinhaltet deshalb zwei Artikel, die sich mit dem gegenwärtigen Stand der Projekte als auch der Forschungsmöglichkeiten befassen. J. M. Ritchie, Richard Dove and Marian Malet stellen das Zentrum, seine Entstehungsgeschichte und die Konferenzen und Publikationen der vergangenen Jahre kurz vor. Auch die zwei aktuellen Projekte werden kurz skizziert: Zum einen handelt es sich um die Erforschung der politischen und kulturellen Aspekte des Austrian Centre im Zeitraum von 1933 bis 1947, zum anderen um ein Oral History-Projekt, das die Dokumentation und Analyse von fünfunddreißig Interviews von Exilanten in Großbritannien zum Ziel hat. Des weiteren beschreibt Walter Abbey die Sammlung des Institute for Germanic Studies zum Thema Exil.

Der Band enthält mehrere Artikel von Gründungsmitgliedern des Zentrums, in denen sie unter anderem die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse der oben genannten Projekte vorstellen. So schreiben Charmian Brinson und Richard Dove über die Publikationen des Austrian Centre, das die wichtigste kulturelle und soziale Organisation der österreichischen Emigration in Großbritannien darstellte. Sie zeigen, wie diese Schriften als kulturelle Propaganda des Free Austrian Movements gesehen werden können und wie sie auf geschickte Weise für ein unabhängiges Österreich sowohl während des Krieges als auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit plädierten.

Drei Artikel beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen britischen Institutionen und Gruppen und den deutschsprachigen Exilanten. Anthony Grenville analysiert in einer schon lange überfälligen Studie die Publikation "Association of Jewish Refugees Information" der Jahre 1946 bis 1950. "AJR Information" erscheint bis zum heutigen Tage jeden Monat und muss deshalb als eine der besten Quellen der Selbstbeschreibung der jüdischen Emigrant/innen in Großbritannien gesehen werden. Grenville beginnt seinen Artikel mit einer erkenntnisreichen Kurzanalyse der Exilforschung in Großbritannien, die sozusagen auch als Einleitung für den ganzen Band gesehen werden kann. Des weiteren zeigt er, wie die in "AJR Information" erschienenen Berichte zu Themen wie Einbürgerung, Rückkehr in das ehemalige Heimatland und Weiterwanderung nach Palästina bzw. Israel sowohl eine generell wohlwollende Haltung gegenüber dem Exilland Großbritannien als auch eine differenzierte Identität der Exilanten widerspiegeln. Das Beibehalten dieser Identität auch noch über die nächste Generation hinweg ist eine Tatsache, die die Gruppe der deutschsprachigen jüdischen Emigranten zu einem solch interessanten Thema für die Akkulturationsforschung macht.

Jennifer Taylor analysiert in ihrem Beitrag die literarisch unterlegte Propaganda des BBC Radiosenders am Beispiel von drei Sendungen: Bruno Adlers "Kurt und Willi" und "Frau Wernicke" sowie "Adolf Hirnschal" von Robert Lucas wurden von 1940 bis zum Ende des Krieges wöchentlich ausgestrahlt. Taylor zeigt den unterschiedlichen literarischen und politischen Hintergrund von Bruno Adler und Robert Lucas im Gegensatz zu kommunistischen Propagandisten des Radio Moskau sowie Differenzen zwischen den erfolgreichen und weniger erfolgreichen einzelnen Sendungen. Die Forschung wird durch den Mangel an überlieferten Manuskripten erschwert sowie durch die Unmöglichkeit, den tatsächlichen Einfluss der Sendungen auf die deutsche Bevölkerung zu verifizieren.

Dorothea McEwan skizziert in ihrem Beitrag "A Tale of One Institute and Two Cities" die institutionelle Geschichte des Warburg Institute, das samt Bücherei und Angestellten von Hamburg nach London übersiedelte.

Die Kenntnisnahme von bis dato weniger erforschten Lebensläufen ist ein weiteres Ziel dieses Bandes: So werden der Schriftsteller Werner Ilberg (Jonathan Ross) und der Journalist Otto Lehmann-Russbueldt (Charmain Brinson/N. A. Furness) vorgestellt, sowie das Werk des zwar als Publizisten bekannten, aber als Exilant in Großbritannien weniger beachteten Sebastian Haffner beleuchtet (Jörg Thunecke).

Die übrigen Beiträge beschäftigen sich mit Literatur und Literaten im Exil. J. M. Ritchie erforscht den Inhalt des "Thomas Mann Society Newsletter", der sich mit dem Schicksal von exilierten Literaten und Künstlern befasst. Anders als "AJR Information" war dieser "Newsletter" hauptsächlich der deskriptiven Vermittlung von Fakten wie Weiterwanderung, Deportation oder Internierung von einzelnen Personen gewidmet und ist wohl deshalb weniger ergiebig, um die kulturellen Aspekte des Exils zu beleuchten.

Ursula Seeber untersucht das Thema "Kinder-und Jugendliteratur" und zwar nicht nur von der Warte der literarischen Produzenten, sondern auch von der der Konsumenten aus. Sie analysiert biografische und autobiografische Texte, um etwas über das Leseverhalten der Jugendlichen und Kinder zu erfahren.

Die Dichter Erich Fried und Michael Hamburger sind das Thema zweier Beiträge von Steven W. Lawrie und Axel Goodbody. Lawrie befasst sich mit dem Konzept von Sprache und Heimat in Erich Frieds Werk und dessen Übersetzungen als einer Art interkultureller Vermittlungsarbeit. Axel Goodbody schließt sich diesem Thema an, insbesondere im Bezug auf Michael Hamburgers Übersetzungen der Werke deutscher Dichter für das englische Publikum. Beide Artikel werfen interessante Fragen der Interkulturalität und des sprachlich und kulturell Vermittelbaren in der europäischen Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts auf.

Das Jahrbuch des Research Centre for German and Austrian Exile Studies, dessen zweiter Band seit kurzem ebenfalls erhältlich ist, stellt ein wichtiges Mittel dar, um Unterlassenes aufzuholen. Es ist zu wünschen, dass es nicht im engen Rahmen der traditionellen Exilforschung stecken bleibt, die immer noch oft zu deskriptiv ist, sondern Ausweitungen in Richtung interkultureller Beziehungen und der Akkulturations- sowie Identitätsforschung gegenüber offen ist.

Titelbild

Ian Wallace (Hg.): German-speaking Exiles in Great Britain. The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies. Bd 1.
Rodopi Verlag, Amsterdam 1999.
277 Seiten, 53,70 EUR.
ISBN-10: 9042004150

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Titelbild

Anthony Grenville (Hg.): German-speaking Exiles in Great Britain. The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies. Bd 2.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2000.
287 Seiten, 46,50 EUR.
ISBN-10: 9042013737

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