Lexikon der österreichischen Exilliteratur

Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser legen eine erste Gesamtdarstellung vor

Von Peter StuiberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Stuiber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Zweig, Robert Musil, Joseph Roth, Erich Fried - allesamt weltbekannte österreichische Exilautoren, die man in jedem Nachschlagewerk zur deutschen Literatur finden wird. Doch wer kennt etwa Eva Avi-Yonah? Oder Ber Schnaper, Theodor Hellmuth Hoch(-Turcsan) und Martin Rathsprecher? Letztere sind - ebenso wie ihre berühmten Kollegen - im "Lexikon der österreichischen Exilliteratur" erfasst, das vor kurzem im Wiener Deuticke-Verlag erschienen ist. Um eines gleich vorwegzunehmen: Es handelt sich dabei um ein Nachschlagewerk, das in Sachen Exilforschung neue Maßstäbe setzt.

Rund 700 Schriftsteller wurden in dem von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser herausgegebenen, mehr als 700-seitigen Mammutband erfasst; in vielen Fällen erfährt man überhaupt zum ersten Mal Näheres zu Biografie und Werk eines Künstlers. Doch welche Kriterien waren für die Aufnahme in den Band ausschlaggebend, wer wird der österreichischen Exilliteratur zugerechnet? Als "Österreicher" wurden - aus nachvollziehbaren Gesichtspunkten - nicht nur diejenigen Autoren angesehen, die innerhalb des österreichischen Staatsgebietes in der Zwischenkriegszeit geboren sind und gelebt haben, sondern auch diejenigen deutsch- und jiddischsprachigen Autoren, die in einem der habsburgischen Kronländer zur Welt kamen. Dass es dabei zu zahlreichen Grenzfällen kommen kann, bei denen keine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Literatur möglich ist, dessen sind sich die Herausgeber durchaus bewusst. Zum Problem der Abgrenzung schreiben Bolbecher/Kaiser in ihrer Einleitung unter anderem: "Die Überbetonung der 'deutschen Frage' in der österreichischen Literatur lenkt übrigens auch ab von dem für die Geschichte der österreichischen Literatur viel relevanteren Problem der Verschränkung mit und der Abgrenzung von der tschechischen, ungarischen, slowenischen, jiddischen Literatur."

Aufnahme gefunden haben weiters Autoren, die als Kinder oder Jugendliche emigrieren mussten und daher oftmals der zweiten Generation zugerechnet werden (die meisten davon schrieben im Übrigen in der Sprache des Landes, in dem sie Aufnahme fanden). Was den Begriff "Exil" betrifft, so bekennen sich die Wissenschaftler zu einer sehr großzügigen Interpretation. Im Lexikon findet man daher nicht nur solche Schriftsteller, die tatsächlich emigriert sind, sondern auch jene, denen die Flucht nicht gelang und/oder die sich im Widerstand engagierten. "Die Literatur des Widerstands und die Literatur des Exils werden als geistige Einheit verstanden", so die Begründung der Herausgeber. Nicht unproblematisch ist freilich die vereinzelte "exemplarische" Hereinnahme von Autoren, die der "inneren Emigration" (ein an sich schon problematischer Begriff) zugeordnet werden. Ob etwa Rudolf Brunngraber, der immerhin 1944 von Albert Speer den Auftrag erhielt, ein Werk über das Nachschubwesen im Krieg zu schreiben, einem Eintrag ins Exillexikon gerecht wird? Darüber kann man sicherlich diskutieren.

Nicht diskutieren kann man jedenfalls über die prinzipiellen Verdienste des Lexikons: Die mehr als 15 Jahre an Forschung, die in dem Band stecken, haben reiche Früchte getragen. Nicht zuletzt ist auch dem Verlag zu dem Band zu gratulieren - schließlich scheiterten vor Deuticke bereits zwei andere österreichische Verlage an dem Projekt.

55 Jahre nach dem Ende des Zeiten Weltkrieges liegt nun also erstmals eine wirklich umfassende Darstellung der österreichischen Exilliteratur vor. Dass sie als solche zahlreiche Anregungen zu weiterführenden Forschungen geben wird, bleibt zu hoffen.

Titelbild

Siglinde Bolbecher / Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur.
In Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka, Nina Jakl, Ulrike Oedl.
Deuticke Verlag, Wien 2000.
598 Seiten, 41,90 EUR.
ISBN-10: 3216305481

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