Dortmund leuchtete

Über Thomas Eichers Projektstudie "Lesesozialisation und Germanistikstudium"

Von Bernd HamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Hamacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erwerb von kulturellen Basisqualifikationen wie Lesen, Schreiben und Reden bildete immer schon ein wichtiges Lernziel im Grundstudium geistes- und kulturwissenschaftlicher Fächer. In Zeiten jedoch, in denen diese Fähigkeiten einerseits zu beruflichen Schlüsselqualifikationen hochgeredet und andererseits einem immer größeren Kreis jener, die eigentlich über sie verfügen müssten, abgesprochen werden, genießen sie besonderes Interesse. Dabei sind freilich die Gewichte unterschiedlich verteilt: Während universitäre Schreibzentren sich in der Regel eines ausgezeichneten - auch publizistischen - Rufes erfreuen und Ratgeber vom Typ "Erfolgreich reden im Studium" allemal Erfolgstitel sind, haftet den Versuchen universitärer Leseförderung, sofern es nicht im engeren Sinne um das Lesen wissenschaftlicher Texte geht, leicht das Odium der Vorschule an: Leseförderung für Germanistikstudenten - ist das nicht wie das kleine Einmaleins für Mathematiker? So jedenfalls tönte die feuilletonistische Begleitmusik zu dem 'Leuchtturmprojekt' "Lese(r)förderung an der Hochschule", das in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Dortmund durchgeführt wurde und das Thomas Eicher nun in einer umfassenden Monographie begründet, dokumentiert und analysiert.

Am publizistischen Echo muss sich der Autor wohl oder übel abarbeiten, wobei sich wohlfeile Häme spätestens dann verbieten dürfte, wenn Evaluierungskommissionen angesichts des enormen Prozentsatzes von Studienabbrechern in den Literaturwissenschaften an den Stellenplänen den Rotstift ansetzen. Auf die "Selbsteliminierung" der 'lesefaulen' Studierenden zu vertrauen ist ebenso fahrlässig, wie es unredlich ist, sich auf das Versagen der vorgelagerten Bildungsinstitution, der Schule, herauszureden. Vielmehr könnte gelingende Leseförderung ein Beispiel für eine gelegentlich geforderte Kundenorientierung der Hochschule sein, die sich aus der Sache selbst ergibt und nicht außeruniversitären Interessen und wirtschaftlichem Diktat folgt. Auch im Hinblick auf den vorgestellten Lehrveranstaltungstyp des Projektseminars liefert Eicher einen Beitrag zur Studienreformdiskussion, wobei sein Modell nicht bei den Strukturen ansetzt, sondern bei der einzelnen Lehrveranstaltung selbst.

In der theoretischen Grundlegung muss Eicher sein Projekt auf einem weiten und unübersichtlichen Feld von der familiären Lesesozialisation und der schulischen Leseförderung über die Konjunktur des Projektstudiumskonzepts in den siebziger Jahren bis hin zur aktuellen literaturwissenschaftlichen Kanondebatte verorten. Während dadurch manche Diskussion nur sehr verkürzt geführt werden kann - etwa über die Frage, welche Rolle das Elternhaus für das spätere Leseverhalten der Studierenden spielt - und wohl auch keine Position der Deutschdidaktik mit Eichers Queren der Diskursfelder wirklich zufrieden sein wird, liegt der Gewinn seiner theoretischen Grundlegung weniger in griffigen Ergebnissen als vielmehr darin, dass aufgrund vieler Einzelbeobachtungen vermeintlich einfache Antworten und Lösungen immer wieder in Zweifel gezogen werden. Das gilt auch für den empirischen Teil des Buches, die Daten zum Leseverhalten von Studienanfängern der Germanistik, die Mitte der neunziger Jahre an den Universitäten Bochum und Dortmund erhoben wurden. Auch hier zieht sich ein Duktus des "Zwar - aber" durch den Text: Zwar wird vergleichsweise wenig gelesen, aber durchaus mit 'professioneller' Haltung gegenüber den Texten; zwar erfolgt die Lektüre "gern in der Hoffnung auf bildungsrelevante Gratifikationen im Rahmen der Ausbildungssituation", und als Autoren sind daher vor allem 'Schulklassiker' beliebt, aber gleichzeitig ist ein klarer Unterhaltungsbezug der Lektüre feststellbar; zwar liegen die Ursachen der Lektüreraster häufig im schulischen oder familiären Bereich, aber die Befragten streiten diesen Einfluss häufig ab. Zwar ist es daher fraglich, ob das studentische Leseverhalten mit einem solchen Fragebogen angemessen erfasst werden kann, doch hätte das von der einschlägigen Forschung entwickelte Instrument der Lesebiographie im vorliegenden Fall keine wirkliche Alternative geboten, da zunächst einmal umfassendes Datenmaterial erhoben werden musste, das nun durch qualitative Untersuchungen noch abzustützen wäre.

Doch über solche Fragen des Forschungsdesigns lässt sich auch morgen noch streiten; gehandelt werden kann - und muss! - schon heute. Wichtiger als methodische Einwände sind daher die hochschuldidaktischen Konsequenzen, die Eicher aus seiner Arbeit zieht, wird doch einerseits - von studentischer Seite - die 'Lust am Text' und die Erfahrungsbezogenheit der Lektüre im Studium häufig vermisst und ist es doch andererseits - aus Sicht der Lehrenden - unstrittig, dass die Befragung Defizite bei den Studierenden offen gelegt hat, die weder einfach als Faulheit ihrem Charakter noch als mangelnde Studierfähigkeit ihren Bildungsvoraussetzungen zur Last zu legen sind. Beide Defizite sollen durch Projektseminare behoben werden, in denen neben der Lust an der Lektüre ein umfangreiches, nicht nur literaturwissenschaftliches Basiswissen vermittelt wird, das im Idealfall schon auf spätere berufliche Tätigkeiten vor allem auch außerhalb der Schule vorbereiten kann. Ziel ist nämlich, wie Eicher an zwei Fallbeispielen - Traumdarstellung in der Literatur sowie Alexander Lernet-Holenia - zeigt, die Erstellung von Anthologien. Dabei werden einerseits "individuelle, interessegeleitete Lektürepläne" aufgestellt (eine Alternative zu abzuarbeitenden Leselisten?), andererseits impliziert die Ausrichtung am Publikationsprojekt eine breite Palette von Arbeitsfeldern von Bibliotheksrecherche über Textkritik und -kommentierung bis hin zu Verlagskontakten, Einwerbung von Sponsorengeldern und technischer Herstellung der Druckvorlage. Literatur- und kulturgeschichtliches Kontextwissen wird dabei im Zuge der Textzusammenstellung erworben und in Referaten immer wieder ins Plenum eingebracht.

In Eichers eigener wohltuend illusionsloser Auswertung seiner Projektseminare begegnet wieder der vertraute Duktus des "Zwar - aber", beispielsweise im Hinblick auf die Bewertung seiner Rolle als Seminarleiter durch die Studierenden: Zwar sei sein Führungsstil zu autoritär, aber man wünsche sich doch deutlichere Arbeitsvorgaben. So kann es kaum überraschen, wenn auch der Rezensent sein Urteil über das Prinzip der Anthologienerstellung in Projektseminaren in einem "Zwar - aber" zusammenfasst: Zwar erscheint der Begriff "studentische Forschung" für Eichers Konzeption der Leseförderung im Germanistikstudium im Prinzip nicht zu hoch gegriffen, aber mit der "geforderten Nähe zum 'realen' literarischen System", also der Veröffentlichung der Ergebnisse, wird ein Qualitätsanspruch erhoben, der kaum in jedem Fall zu halten sein dürfte. Was Eicher als Maxime für schulische Projektarbeit referiert: dass "es noch nicht einmal auf die Qualität der Produkte eines handlungsorientierten Unterrichts an[kommt]", würde eine erfolgreiche Transformation des Modells in die höhere Ausbildungsstufe der Universität zweifellos gefährden. Qualitätssicherung liegt hier im Interesse aller Beteiligten.

Dortmund leuchtete. Doch inzwischen sind beim so genannten "Leuchtturmprojekt" die Lichter ausgegangen, die Laufzeit des Projekts ist beendet. Damit ist die Lese(r)förderung an der Hochschule zunächst wieder auf die Einzelinitiative der Lehrenden angewiesen. Deren Palette an Ausreden ist durch Eichers Studie deutlich schmaler geworden, und das ist nicht sein geringstes Verdienst.

Titelbild

Thomas Eicher: Lesesozialisation und Germanistikstudium.
mentis Verlag, Paderborn 1999.
254 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3897850907

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