Heinz-B. Heller zu der außergewöhnlichen Studie von Matthias Kraus über die Filme des Kanadiers Atom Egoyan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anmerkung der Redaktion: Matthias Kraus, Mitarbeiter des Instituts für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg, ist Ende Januar 2001 gestorben. Heinz-B. Heller würdigt hier die wissenschaftliche Leistung seines Schülers.

1.

Atom Egoyan (Jahrgang 1960), trotz seiner spektakulären Festivalerfolge in Deutschland nur in Cineastenkreisen ein Begriff, gehört zu den kreativsten und reflektiertesten Filmemachern des postmodernen Kinos. Konsequent wie kaum ein anderer problematisiert und verhandelt er im Rahmen des Erzählkinos den prekären Status der Filmbilder, zumal in Ansehung neuer Bildtechnologien wie Video oder digitaler Bildproduktion, - und dies im Rahmen eines Diskurses der Subjektkonstitution in und angesichts der Bildmedien. Mehr noch: Vor dem biographischen Hintergrund einer gebrochenen Identität als Kind armenischer Eltern, die es über das ägyptische Exil in das multikulturelle Kanada geführt hat, vermittelt Egoyan das Thema der individuellen Subjektkonstitution und Selbstfindung mit dem öffentlichen Diskurs über die Schwierigkeiten der nationalen Identitätsfindung, wie er gerade für die kanadische Gesellschaft insbesondere im Angesicht der USA in hohem Maße charakteristisch ist. "Bild - Erinnerung - Identität": In diesem Titel verschränken sich Perspektiven des Gesellschaftlichen und Individuellen; diese relational gefaßten Kategorien stellen darüber hinaus Kristallisationspunkte dar, die gleichermaßen thematische Aspekte wie Probleme der ästhetischen Repräsentation focussieren: die Schwierigkeiten der bildlichen Selbstdefinition und des Selbstentwurfs im Medium der Geschichte(n). Vor diesem Hintergrund verspricht die vorliegende Arbeit, eine 1999 abgeschlossene Marburger Dissertation, einen außerordentlichen Erkenntnisgewinn nicht allein filmwissenschaftlicher Art, sondern auch im weiteren Horizont kultureller Erinnerungsforschung, einem privilegierten Forschungsparadigma der Kulturwissenschaften in den neunziger Jahren. Und dies sei vorab gesagt: Dieses Versprechen wird in einer insgesamt hervorragenden Weise eingelöst. Dieser Befund bezieht sich nicht allein auf die Ergebnisse der filmwissenschaftlichen Analysen dieser Arbeit und deren Vermittlung mit der kanadischen Kulturgeschichte. Ebenso setzt die mustergültige methodische Vorgehensweise entschieden Maßstäbe, die auch jenseits ihrer Anwendung auf den spezifischen, hier verhandelten Erkenntnisgegenstand Gültigkeit haben.

Matthias Kraus gliedert seine Arbeit in zwei große Abschnitte. Im ersten Teil ("Atom Egoyan im kanadischen Kontext"), der ein Drittel der Untersuchung ausmacht, führt Kraus zunächst mit einer "biofilmographische[n] Skizze" an den Filmautor Atom Egoyan heran: an rekurrente Themen und Motivkomplexe, aber auch an wiederkehrende ästhetische Verfahrensweisen im Gesamtwerk Egoyans. Daran schließt sich ein Überblick über die Entwicklung und den Stand der kanadischen Filmindustrie an, der vor allem auf deren prekären Status im Angesicht der übermächtigen US-Filmindustrie in Vergangenheit und Gegenwart abhebt und der die Schwierigkeiten, zu einem eigenen Profil zu finden, näher beleuchtet. Mit einem gedanklich ungemein dichten Exkurs zu dem Begriffspaar "Identität und Differenz" entwickelt Kraus ein kategoriales Instrumentarium, das sich gleichermaßen für die Analyse von individuellen Werkstrukturen wie von gesellschaftlichen Diskursformationen (hier: "Canadianess") eignet. Die beiden nachfolgenden Kapitel dieses ersten Hauptabschnitts ("Kulturelle Manifestationen" und "Der kanadische Technologiediskurs") führen dies mustergültig vor: Immer wieder setzt Kraus seine differenztheoretisch fundierten Diskursanalysen ("wie die Fragen von Repräsentation, Identität und Marginalisierung in Kanada [...] diskutiert werden") in Beziehung zu Egoyans frühen Opuscula bzw. zu den späten Kurzfilmen A Portrait of Arshile (1995) und Open House (1995), sieht er sie - frei von planen deterministischen Perspektiven - funktional in einem wechselseitig erhellenden Licht. In dem Schlußkapitel des ersten Hauptteils erfolgt unter gleichen methodischen Vorzeichen schließlich eine Engführung auf die "Rede über den kanadischen Film" - mit einem letztlich nur in Paradoxien ausformulierbaren Ergebnis: Film in Kanada, "dem zugleich ersten postkolonialen und letzten kolonialen Staat", offenbare seine Identität als "Canadian Cinema" in der "Suche nach angemessenen Selbstbildern", die gleichzeitig die Anerkenntnis "der Diversität dieser Selbstbilder" beinhalte. Wie in den breiter angelegten soziokulturellen Diskursen über kanadische Identität zeitige auch die reflexive Rede über den kanadischen Film "immer [...] den Befund eines Verlustes oder Mangels, [was] die Fähigkeit zur Selbst-Definition als andauernde Suche erscheinen läßt: Suchen und Werden bestimmen das Sein"; eine Gedankenfigur, die sich in zahlreichen Varianten auch zentral in Egoyans Filmen vermittelt.

Im zweiten Hauptabschnitt seiner Untersuchung führt dies Kraus in detaillierten Einzelanalysen zu Egoyans sieben 'großen' Filmen - Felicia's Journey (1999) konnte nur noch kursorisch behandelt werden - höchst eindringlich und anschaulich vor. Beeindruckend sind hier nicht nur die analytische Sorgfalt, die begriffliche Trennschärfe und die ästhetische Sensibilität, die selbst dem scheinbar nur beiläufigen Detail noch seine bedeutungskonstitutive Funktion abgewinnen. Nicht weniger eindrucksvoll sind die metafilmischen Reflexionen, die unter Einarbeitung avanciertester filmtheoretischer Standards die Analysen unterfüttern: so etwa, besonders gelungen, der Exkurs "Kinematographisches Dispositiv und filmische Selbstreferentialität" im Kapitel über Next of Kin. Frei von allen Tendenzen der argumentativen Verselbständigung (wie sie nicht selten in Dissertationen zu beobachten sind), werden diese theoretischen Zwischenkapitel hier funktional eingebunden in den gedanklichen Gesamtduktus und überdies in einer bemerkenswert souveränen, dem Jargon abholden Diktion ausformuliert. Dies kommt der Überzeugungskraft und der Anschaulichkeit der Ausführungen zugute, wozu nicht zuletzt auch die sehr ökonomisch eingesetzten, feinsinnig ausgewählten Illustrationen beitragen. Dies gilt insbesondere für die Passagen, in denen Egoyan die filmische Narration über die Montage und Schichtung von Bildern unterschiedlicher medialer Provenienz (Photographie, Film, Fernsehen, Video) konstruiert. Ihren zentralen Fluchtpunkt haben diese Einzelanalysen in der Frage, wie Egoyan in seinen Filmen das Problem der Identität(sfindung) im Verhältnis zwischen Repräsentation, Erinnerung und Geschichte praktisch-ästhetisch verhandelt, also darstellt und reflektiert: "inwiefern persönliche Geschichten dazu in der Lage sind, Geschichte zu konservieren, herzustellen, zu interpretieren und Subjektpositionen im Schnittpunkt von Privatem und Öffentlichem auszumachen oder aufzufinden" - und dies im Modus der modernen Bildmedien, denen sich eine tiefgreifende Skepsis an ihrer Repräsentationskraft eingeschrieben hat.

2.

Im Detail erscheinen mir vor allem folgende Argumentationslinien besonders ertragreich:

Gegenüber einem essentialistischen Verständnis von Identität geht Kraus im Anschluß an Freud und insbesondere Lacan von ihrem imaginären Entwurfscharakter aus. Dabei gestaltet sich die Suche nach identitätsstiftenden Bildern, nach mentalen Selbstbildern, zumal unter den gegebenen Umständen einer massenmedialen Gesellschaft, in "ständiger Abhängigkeit von der Rezeption künstlicher (und zum Großteil eben auch 'fremder') Bilder und Geschichten", ihrer kulturellen Symbole und diskursiven Formierungen. Gleichzeitig ist diesem Prozeß der Identitätsfindung notwendigerweise die Frage nach der Differenz, der Ausgrenzung eingeschrieben, "da sich das Selbst nur in der Konstruktion eines Anderen konstituieren kann". Identität - sei es im Individuellen (wie in Egoyans personalem Universum), sei es im Gesellschaftlichen (wie in Hinblick auf die "Canadianess") - läßt sich deshalb nicht darstellen oder sprachlich diskursiv einholen, "bestenfalls kann ihr Werden als außerhalb der Repräsentation imaginiertes 'prozessiert' werden". An die Stelle der Einheit von Signifikat und Signifikant tritt, mit Derrida gesprochen, die Differenz als zentrale Kategorie. Sie zu veranschaulichen und zu reflektieren heißt, die Regeln der diskursiven, zumal medial imprägnierten Formierung transparent zu machen - auch und gerade in und über eine filmische Form, die die Dominanz 'fremder' Bildstrukturen unterläuft oder aufbricht; eine Notwendigkeit, der sich Egoyans persönliches Filmschaffen ebenso ausgesetzt sieht wie das auf eine kollektive Identitätstiftung bedachte kanadische Kino insgesamt.

Als zentrale Kategorie ist 'Differenz' aber auch zur Geltung zur bringen in Hinblick auf die unterschiedlichen medialen Gegebenheiten und Funktionen bild-technischer und -ästhetischer Repräsentation, hier vor allem in Ansehung von Film, Fernsehen und Video. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint vor allem der für die frühen Filme Egoyans charakteristische Befund, daß hier die Figuren "gefangen und paralysiert" erscheinen in der von "Verdoppelungen" und Überlagerungen gekennzeichneten "durchmediatisierten Technowelt" und daß die explizit selbstreferentiellen und konfligierenden Bilderdiskurse unter Preisgabe des Prinzips linearer Narrativität zugleich Bruch- bzw. "Schnittstellen zwischen Imagination und Perzeption" markieren, die eine durch die Figuren nicht mehr in Form von Projektionen kompensierbare "innere Leere", einen "eigenen Mangel" kenntlich werden lassen - einen "Mangel an Geschichte und an adäquaten Formen der Erinnerung". Im Unterschied dazu stehen die späteren 'langen' Spielfilme Egoyans und ihre Figuren ungleich stärker im Zeichen einer psychoanalytisch fundierten Anlage: der Internalisierung des Fremden als pathologisches Movens der Identitätssuche und Selbstvergewisserung.

So führt etwa die auf außerordentlich hohem Niveau theoretisch untermauerte Analyse von Next of Kin (1984) eindringlich vor, wie die differenzielle Entfaltung personaler (und auch kollektiver) Identität ihre Entsprechung in der differenziellen Dekonstruktion der Narration und der sie tragenden Figuren findet: Sie treten in einer erkennbaren Doppelfunktion sowohl als fiktionale Handlungsträger, als psychologisch motivierte Charaktere wie auch als Darsteller, als Schauspieler, körperbildlich in Erscheinung. Zugleich radikalisiert Egoyan zunehmend (so in Family Viewing [1984] und Speaking Parts [1989]) die Reflexion auf mediale Differenzen zwischen Film und Video, wobei letzteres, in Form der Home-Videos subjektiv das privilegierte Erinnerungsmedium, am nachhaltigsten zur Entmaterialisierung der Bilder und damit zum Verschwinden der ihnen eingeschriebenen Erinnerungspuren beiträgt. Es ist ein letztlich paradoxer Sachverhalt. Denn einerseits gilt: "[Je] höher die 'Auflösung', desto größer der Realitätseindruck"; andererseits löst das Medium Video den sichtbaren "Körper auf im elektronischen Dispositiv" (ebd.), führt die digitale "Duplikation des Selbst" durch das technologische System gerade "zur Dividuation, zur Verdopplung des Subjekts".

Leben Family Viewing und Speaking Parts von der Spannung von Filmbild und Videobild, wobei letzteres den Spielcharakter des Filmbildes reflektiert und potenziert, zur Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte der Figuren wird und vor allem deren Erinnerungen im skizzierten Sinne substituiert, so fungiert in The Adjuster (1991) das Filmbild als einzig verbleibende Erzähl- und Reflexionsebene. Ungemein erhellend führt Kraus anhand von The Adjuster vor, wie in Egoyans subjekt-dezentrierter Perspektive der Körper selbst zum Medium wird. "Was heißt Fleisch in einer Welt, wo die Unterscheidung zwischen Präsentation und Repräsentation so verschwommen ist?", fragt Egoyan, und in diesem Horizont offenbaren die ausgemachten Rituale des Egoyanschen Figurenensembles und die auf Schadensregulierung zielenden Bestandsaufnahmen des Titelhelden doch nur einen durch nichts zu kompensierenden Verlust und Mangel.

Obwohl von der Filmpublizistik als 'kleiner persönlicher' Film Egoyans abgetan, weist Kraus Calendar (1993) mit Recht einen besonderen Stellenwert in der Werkbiographie des kanadischen Filmemachers zu, zumal im spezifischen Erkenntnishorizont dieser Untersuchung. Nicht nur stellen sich hier Fragen der ethnischen und nationalen Zugehörigkeit weitaus expliziter und zentraler als in anderen Filmen Egoyans; auch die Probleme, medial Erinnerungen herzustellen, sei es über Bilder, Musik, Sprache, Geschichten oder Rituale, wird in einer außerordentlich differenzierten und vielschichtigen Perspektive angegangen. Und schließlich ist dieser Film überlagert und durchsetzt von einer metafilmischen Reflexionsstruktur, der den Versuch, Erinnerungen durch Repräsentationen herzustellen, selbst einer Prüfung unterzieht, "indem die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch für den Zuschauer durchlässig werden". Mustergültig legt Kraus die verschiedenen Schichten und Problemkomplexe frei - und dies im Focus zweier widerstreitender Perspektiven: der eines historisch bewußten Blicks, dem zugleich der verzerrte Blick durch die optische Apparatur der Photographie und des Films gegenüber gestellt wird. Allein dieses an eindrucksvollen Befunden ungewöhnlich reiche Kapitel verleiht der vorliegenden Studie einen besonderen Rang, wozu eine feinsinnige theoretische Fundierung (cf. bes. Deleuze mit seiner an Bergson geschulten Theorie des Zeit-Bilds) nicht unmaßgeblich mit beiträgt.

Gegenüber Calendar erscheinen Exotica (1994), The Sweet Hereafter (1997) und Felicia's Journey (1999), die drei jüngsten in Deutschland gezeigten Filme Egoyans, bei allen thematischen Bezügen zu früheren Werken unter operativ-ästhetischen Aspekten fast wie eine Rücknahme im Experimentellen. Doch kann Kraus mit überzeugenden Argumenten darlegen, daß Egoyan auch hier durchaus seine zentralen Fragestellungen: Probleme einer individuellen wie gesellschaftlichen Identitätssuche und -stiftung in einer von mentalen Vorstellungs- und medialen Wahrnehmungsbildern massiv durchsetzten Realität, konsequent weiter verfolgt hat - eben auch mit der Konsequenz, sich aus Gründen einer größeren Publikumswirksamkeit verstärkt auf Momente des Narrationsfilms und des sinnlichen 'Kinos der Attraktionen' (Tom Gunning) einzulassen, ohne deren Formierungszwängen zu unterliegen.

3.

Manche Dissertationen sind mehr als nur eine Qualifikationsarbeit zur Erlangung der Doktorwürde. Die vorliegende Studie ist es ohne jeden Zweifel. Hier schreibt nicht nur ein passionierter, von der Sinnlichkeit des Mediums faszinierter Kinogänger, sondern auch ein begabter junger Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler, dem ob seiner außergewöhnlichen analytischen Fähigkeiten und theoretischen Kompetenz alle Tore einer glänzenden akademischen Karriere offen - standen. Matthias Kraus hat einen anderen Weg gewählt; er hat vor wenigen Tagen seinem Leben ein Ende gesetzt. Alle, die mit ihm persönlich oder mittelbar im Austausch standen, sind erschüttert und von tiefer Trauer erfüllt. Muß dieses außergewöhnliche Buch nun nicht auch in einem ganz anderen Licht gelesen werden?

Titelbild

Matthias Kraus: Bild - Erinnerung - Identität. Die Filme des Kanadiers Atom Egoyan.
Schüren Verlag, Marburg 2000.
256 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3894723211

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