Selbstmord am Silsersee

Adolf Muschgs Roman "Sutters Glück"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat auf den Gerichtsreporter Sutter geschossen? Wer hat ein Motiv für diese Tat? Diese Fragen stellt sich nicht nur das Opfer, sondern auch der Polizist Zollikofer. Doch Sutter schweigt gegenüber dem Ermittler und begibt sich nach seiner Genesung selbst auf Spurensuche.

Jede Nacht erhielt er zuvor (stets exakt um 23.17 Uhr) mysteriöse Telefonanrufe. Stets saß er im Sessel und las Kriminalromane. Nicht in irgendeinem Sessel, sondern in dem seiner Frau, die sich - vom Krebs zerfressen - ertränkt hat.

Es geht also in Adolf Muschgs neuem Roman um eine doppelte Suchbewegung - um die Motive des Schützen und um Sutters retrospektive Erforschung der eigenen Ehe und des eigenen Daseins. Schnittstellen zwischen diesen Erzählebenen sucht man zunächst vergeblich, denn Sutters Frau Ruth lebte äußerst zurückgezogen, bewahrte auch zu den wenigen Freunden immer eine gewisse Distanz (sie nannte es "Anstand") und bot somit kaum Angriffsflächen.

Bei der Suche nach den Attentatsmotiven muss sich Sutter - er heißt eigentlich Emil Gygax und wurde nur von seiner Frau so genannt - also auf seine berufliche Tätigkeit als Gerichtsreporter beschränken. Hier tut er sich wesentlich leichter als bei der Bewältigung der privaten Vergangenheit. Schnell stößt er auf den Mordfall Yalou, der ihm einst Schwierigkeiten beschert hat und ihn nun einholt. Es ging um einen Mord in seinem Bekanntenkreis (darf ein seriöser Journalist darüber schreiben?): eine attraktive Frau hatte ihren Mann erschlagen. Später hatte Sutter deren Tochter getroffen und damit eine beiderseitige, verhängnisvolle Erinnerungslawine losgetreten.

Zufälle spielen in "Sutters Glück" (der Titel ist purer Sarkasmus) auf der Ebene des "Kriminalfalls" eine gewichtige Rolle, und man fühlt sich aus diesem Grund sogleich an Muschgs 1974 erschienenen Roman "Albissers Grund" erinnert, der ebenfalls die Motivsuche für ein Verbrechen thematisiert.

Doch diesmal geht es dem 66-jährigen Autor um mehr als schicksalhafte Zufälle und dahinter verborgene mögliche Zusammenhänge. Muschg lässt einen pensionierten Reporter seine Lebensbilanz ziehen. Die Schüsse beim Spaziergang und die anschließende Befragung am Krankenbett dienen lediglich als sinnstiftende Assoziationsauslöser.

Je stärker sich Sutter in die eigene Vergangenheit gräbt, um so mehr gewinnt man als Leser den Eindruck, dass er verpassten alternativen Lebenschancen in der 68er Zeit nachtrauert, dass er mit seinem Job unzufrieden war, sich zu Höherem berufen fühlte und nach dem Tod seiner Frau, mit der ihn eigentlich (auf den ersten Blick) nur die Liebe zu den Brüdern Grimm verband, zu vereinsamen droht. Beim Füttern der Katze rezitiert er Gedichte, um nicht gänzlich der Sprachlosigkeit zu verfallen. Kurz: Der äußerst belesene Sutter sucht vergebens nach den Spuren des Glücks.

Adolf Muschg hat einen brillanten Roman über eine existenzielle Lebens- und Sinnkrise geschrieben. Auch seine große essayistische Meisterschaft blitzt in den eingeflochtenen reflexiven Exkursen immer wieder auf.

Am Ende dieser zyklischen Suchbewegung findet Sutter den Weg zurück zu seiner Frau: Er begeht an der gleichen Stelle am Silsersee Selbstmord. Sutters Unglück ist für den Leser ein großer Gewinn.

Titelbild

Adolf Muschg (Hg.): Sutters Glück. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
335 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518412140

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