Auf sein Herz gehört

Nachlese zu Robert Schneiders "Die Luftgängerin

Von Franz LoquaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Loquai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem riesigen Erfolg von "Schlafes Bruder" hat sich Robert Schneider sechs Jahre Zeit gelassen für seinen zweiten Roman, der im Vorfeld vor allem durch den abgezockten Verlagspoker des Autors Furore gemacht hat. Wie mittlerweile leider branchenüblich, erschienen die ersten Besprechungen schon vor der Auslieferung des Buches; und noch bevor der Leser den Roman in den Händen halten konnte, hat die Vorhut der Kritikerzunft Schneiders Werk in Grund und Boden gestampft: Kitsch, Tohuwabohu, Gestammel, Debakel, Makulatur. Trotz des niederschmetternden Votums der Kritik deutet sich die Tendenz an, daß es, wie schon bei "Schlafes Bruder", die Leser sein werden, die das Buch nach und nach auf die Erfolgsspur bringen [bis Januar 99 wurden über 100 000 Exemplare verkauft]. Freilich, auch die Lesermillionen, auf die sich Schneider gerne beruft, können irren.

"Schlafes Bruder" war eigentlich kein Roman, eher eine Märchen-Novelle, sehr abseitig und vorarlbergisch gedrechselt, mit vielen Taschenspielertricks, zu denen auch das stilisierte Pathos gehörte. Der Leser wußte, diese Musikwunderprosa folgt einer strengen Partitur, und der Dirigent hatte kräftig mit dem Taktstock gefuchtelt. Diese Meta-Ebene machte den Text goutierbar und trug ebenso zu dem enormen Erfolg bei wie der Umstand, daß von der Geschichte keine Verstörung ausging: Das unerhörte Ereignis wurde hochgejubelt, als Buch, Film und Oper gefeiert und dann abgelegt.

Auch "Die Luftgängerin" erzählt von einer unerhörten Begebenheit. Diesmal jedoch zielt der Entwurf ins Weite, stellt ein komplexes Beziehungsgeflecht her und schafft eine raffinierte, erneut musikalisch strukturierte Ordnung der Töne, Zeiten und Räume, kurz: Robert Schneider wollte den großen Roman. Geblieben sind der rheintalische Mikrokosmos, die Vorliebe für exzentrische Figuren, für Monstrositäten im Lieben und Leiden, für das Ominöse, Gigantische, Kosmische. Angesiedelt ist das Geschehen jedoch in den letzten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, das heißt bei Schneider natürlich Jahrtausends. Bei dem mutigen Sprung aus altvorderer Zeit in eine endzeitliche Gegenwart durfte der Autor die antikisierende Diktion seines Erstlings nicht mitnehmen, die Meta-Ebene mußte wegfallen. Schneider hat sich bemüht, seine Sprache weiterzuentwickeln, aber dabei allzuviel an legendenhaftem Parlando, an beschwörendem Pathos, an hagiographischer Emphase hineingepackt. Ohne den metasprachlichen Duktus liefert sich das Buch aus: Es ist offen für Angriffe und Veräppelungen, ein gefundenes Fressen für Sezierer, Zerhacker und geifernde Futterneider.

Der Roman erzählt die Geschichte der Maudi Latuhr, des "letzten Herzensmenschen" im fiktiven rheintalischen Städtchen Jacobsroth (die Kritiker, die in ihren Metropolen hocken und die Alpenprovinz auswendig zu kennen meinen, machten ein Dorf daraus), lies: Dornbirnbregenzfeldkirch, ein Allerweltsort, in dem den Menschen die Sehnsucht, das "Aufleuchten der Seele" und das "Magischwerden" verlorengegangen sind. Maudi ist ein Engel, biologisch ein als Frau geborener Mann ("Syndrom der testikulären Feminisierung", heißt es ganz unpoetisch), der den entzauberten Menschen das Herz höher schlagen lassen soll, der Wärme und Zuversicht schaffen will in trostloser Zeit.

Als Kind der Liebe von den "Zwillingsseelen" Ambros und Amrei gezeugt, wird sie vom Vater, der niemals Geld anrühren will, zum Luftgängertum erzogen. Ein Luftgänger ist jemand, "der nur auf sein Herz hört"; er "gehorcht niemandem auf der Welt"; er "tut, was er will" und "hat nie, nie, nie Angst". Die Individualanarchistin Maudi als guter Mensch von Jacobsroth, der Superengel, der fliegt, wohin sein Herz ihn trägt? Was als Romantitel wunderbar metaphorisch in der Schwebe bleibt, droht im hehren Ernst der Buchzeilen zur verkitschten Ikone zu mutieren. Daß Maudi merkwürdig wesenlos bleibt, daß die Hauptfigur sich dem Autor gleichsam entzieht, das haben Engel und Heilige zwangsläufig an sich. Schon eher ist Schneider vorzuwerfen, daß das heimliche Wirken Maudis, die ein vielmaschiges Beziehungsnetz mit allen Figuren verbindet, auf die guten und die bösen Seelen von Jacobsroth nicht immer nachvollziehbar ist. Auch ihre Wandlung zur Frau am Ende wird allen sprachlichen Wellenschlagens unerachtet eher behauptet als geschildert, ähnliches gilt für manche Momente des "Magischwerdens". Wenn Schneider auf seine Beschwörungsformeln und das Rilkesche Raunen verzichtet, wenn er die (wenigen) Freuden und die (vielen) Leiden seiner Leute ganz irdisch anpackt, zeigt der Roman seine Stärken. Lebendig wird das Provinzpanorama vor allem durch die zahlreichen illustren Nebenfiguren: den liebeskranken Boje, der die regionale TV-Anstalt zum Irrenhaus macht; den verfetteten Kunstheini Nigg, der nicht weinen kann; den Zyniker Harald mit dem verlorenen Herzklopfen, der morden muß; die leidende Margot, die sich mit Stifter-Lektüre tröstet; den Zeitungsmogul Sot; den Polizisten und verhinderten Pianisten Eduard und nicht zuletzt durch Maudis Halbschwester Esther, die heimliche Hauptfigur. Vielleicht hätte es dem Roman gutgetan, aus Esther und Maudi konsequent eine Person zu machen, er hätte dadurch ein Zentrum gefunden. So zerflattert das Buch in viele Einzelepisoden, unter denen sich freilich auch Glanzstücke finden, die in der Summe aber zuviel auf einmal sein wollen: Legendengeschichte, Zeitroman, Schlüsselroman, Kriminalroman, Kultursatire, Heimatroman, Autobiographie und apokalyptisches Panoptikum.

Angreifbar ist der Roman auch wegen seiner Sprache, und die Kritik hat Schneider zahlreiche Entgleisungen vorgerechnet, genüßlich natürlich. Tatsächlich läßt sich nahezu jeder Satz isoliert zitieren, so daß er wie eine Selbstparodie klingt. Ich halte Schneider für klug genug, daß er dies einkalkuliert hat. Wenn seine Figuren ein "Antlitz" haben statt eines Gesichts, wenn sie einander "erkennen" statt zusammen schlafen, wenn sie "wähnen" statt meinen, wenn sie jemanden "erwecken" statt aufwecken, dann trägt das wohl dem intendierten hohen Ton Rechnung, klingt dadurch freilich auch nicht besser. Aus dem Roman ließe sich eine Anthologie mit Stilblüten und schiefen Ausdrücken zusammenstellen: von den rötenden und grünenden Ampeln über berollschuhte oder beabendanzugte oder tiefzungig küssende Leute und geglättete oder mühelose Hände und entflammte Glieder und beschnurrbartete Meister und enge Körper und einem Sackungen erleidenden Schnee und irrigen Schmerzen und zerspringenden Gedanken bis hin zu den Händen, die "sein wahres Gesicht" zeigen. Das ist eben Schneiders Idiom. Wir wollen es ihm auch belassen, aber uns nicht davon anstecken lassen. Doch wäre der Roman bestimmt nicht schlechter geworden, hätte Schneider diese Manierismen getilgt und dialektale Wendungen auf die Dialoge begrenzt. Was Schneider kann, zeigen wunderbare Sätze wie dieser: "Die rheintalische Landschaft wurde weich und zart und zum Verschenken leicht."

"Die Luftgängerin" ist ein ehrgeiziges Projekt, mit dem es sich Schneider nicht einfach gemacht hat, bei dem er aber etwas zu stur nur auf sich selber und zu sehr auf sein Herz gehört hat. Dennoch finde ich diesen Roman im Vergleich zum Erstling das interessantere und komplexere Buch. Schneider behandelt wichtige Themen der Zeit wie Fremdenhaß, Arbeitslosigkeit, Bindungsverlust, Zynismus und Werteverfall, und er hat den Mut, dem allem das Pathos der Liebe und der Sehnsucht entgegenzusetzen. Daß ein Roman die heillose Welt nicht erlösen kann, weiß der unerlöste, einsame Robert Schneider selbst. Er hat es wenigstens versucht. Und ist dabei in Würde gescheitert. Was bleibt: dem Autor Beharrlichkeit wünschen, einen guten literarischen Schutzengel, viel Glück. Dann wäre das dritte Buch ein großes Versprechen. Wir geben die Hoffnung nicht auf.

Titelbild

Robert Schneider: Die Luftgängerin.
Carl Hanser Verlag, München 1998.
350 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3896670557

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