Verpuffende Metaphern

Jeanette Wintersons überflüssiger Erzählband "In dieser Welt und anderswo"

Von Ralf HertelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Hertel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vage deutet es der Titel an: in Jeanette Wintersons erstem Erzählband geht es um Grenzbereiche des alltäglichen Lebens, genau genommen um das Überschreiten von Grenzen. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das der auf den ersten Blick recht disparaten Anthologie Kohärenz verleiht, so ist es jenes der Transgression. Da gibt es eskapistische Rituale aus dem grauen Alltag, in denen die Grenze zwischen Realität und Fantasie spielerisch überschritten wird. In der Titelerzählung begegnen wir einer armen Familie, die sich regelmäßig zu einer "Flugzeugnacht" zusammenfindet. Sie dreht den alten Globus und stellt sich vor, in einem Flugzeug zu sitzen und träumt von einem Ort in weiter Ferne: "Auf halbem Wege unserer Reise schwankte Mutter, als Chefsteward, mit Teetassen und Toast und Eintopf den Gang hinunter. Danach trat Dad mit den Hausarbeiten der kommenden Woche vor, die er auf kleine Zettel gekritzelt hatte. Wir tauchten eine Hand in den Beutel und einer von uns, der Glückliche, würde zollfrei bekommen und überhaupt nichts machen müssen."

Einmal wird die Grenze zwischen Mensch und Tier durchlässig, wie in "Der 24-Stunden-Hund", ein andermal öffnet sich die Perspektive in den unendlichen Weltraum, wie in "Orion".

Die offensichtlichste Grenzüberschreitung ist jedoch der Tabubruch gleichgeschlechtlicher Sexualität: In "Die Poesie des Sex" verteidigt ein lesbisches Liebespaar seine Liebe gegen die penetranten Fragen eines - offensichtlich männlichen - impliziten Lesers. Das bohrende Nachhaken wird dabei zum Merkmal männlichen Unverständnisses. Die Erzählerin, Sappho genannt, antwortet nur indirekt. Ihr abschweifender, assoziativer Stil ist wohl das, was man als écriture féminine bezeichnen könnte: der Versuch, einem als phallogozentrisch empfundenen rigiden Regelwerk aus Grammatik und Sinnanspruch zu entkommen. Zugleich wird die Liebesbeziehung ästhetisch symbolisch überhöht. Wenn sich die Malerin Picasso und die Erzählerin-Dichterin Sappho lieben, dann vereinigen sich nicht nur ihre Körper, sondern auch die Künste in einer symbolischen Form der Ekphrasis. So darf Sexualität bei Winterson nicht einfach nur Trieb sein. Da ist kaum ein Element der Kunst, das nicht sexuell konnotiert wäre: Das Leintuch wird den Liebenden zum Laken, Picasso befindet sich gerade in der "Blauen Periode", nachdem zuvor alle Perioden rot gewesen waren, und natürlich malt sie mit ihrer "Klit". Der sexuelle Akt wird so zum Kunstwerk, die Liebe ist nur als "lexikographische Liebe", ja als Religion möglich: "Indem wir uns liebten, schufen wir ein Lexikon der verbotenen Wörter. Wir sind Wörter, Sätze, Geschichten, Bücher. Du bist mein Neues Testament. Wir sind füreinander das Evangelium, ich bin deine Verkündigung, deine Offenbarung."

Nun ist die Gleichsetzung des schöpferischen Akts des Künstlers mit dem der Zeugung nicht gerade neu. Man hat das Spiel schnell durchschaut und irgendwann verliert auch der metaphernreiche Stil Wintersons seinen Reiz, der im Übrigen von der Übersetzerin nicht immer glücklich wiedergegeben ist: Wer verwendet schon Wörter wie "aufräufeln"? Die Liebenden als Stier und Matador, Pferd und Reiter, Tiger, als Madonnen, Sumo-Ringer oder Schmetterlinge - Sprachbilder, die bei Winterson oft nur für die Dauer eines Satzes leuchten, um dann schon der nächsten Metapher zu weichen. So entsteht eine inkohärente Reihung einer Vielzahl von Bildern und Vergleichen, die sich in ihrer assoziativen Überfülle gegenseitig neutralisieren und deren Wirkung allzu schnell verpufft. Die Geschichte endet mit den Worten: "Sie ist meine Ernte, und ich die ihre. Sie sät mich und mäht mich, wir fallen einander in den Schoß. Ihre Meere sind reich an Fischen für meine Rute. Ich habe sie durch und durch gerüttelt. Sie malt heute. Das Zimmer ist orange vor Anstrengung. Sie malt heute, und ich habe dies geschrieben."

Und weiter? Im Fortgang der Lektüre drängt sich immer stärker der Verdacht auf, dass Winterson sich hinter all den mehr oder weniger elaborierten concetti versteckt, weil sie eigentlich nichts zu sagen hat. Die Geschichten "In dieser Welt und anderswo" sind kleine Feuerwerke: schillernd in ihrer überraschenden Metaphorik, deren funkelnde Schönheit jedoch leider auch schnell verraucht. Möglicherweise ist dies ein Buch, das Winterson schreiben musste, um an die Grenzen des eigenen manierierten Stils zu stoßen und von dort einen Neuanfang zu versuchen. Mit Sicherheit jedoch ist es kein Buch, das man lesen muss.

Titelbild

Jeanette Winterson: In dieser Welt und anderswo. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
230 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3827000424

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