Wissenschaft und Literatur als Mythos

Die Medizin und die Künste um 1800

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 1998 veranstaltete das ein Jahr zuvor gegründete Gießener Graduiertenkolleg "Klassizismus und Romantik im Europäischen Kontext" mit finanzieller Unterstützung der DFG ein erstes Symposion. Elf WissenschaftlerInnen referierten zum Thema "Kunst und Wissenschaft um 1800". Thomas Lange und Harald Neumeyer haben die Vorträge nun in einem um einen Text von Jürgen Fohrmann erweiterten Band herausgegeben. Gemeinsames Anliegen der Beiträge, so führen die Herausgeber in der Einleitung aus, sei, "die Wissenschaften auf die Künste und die Künste auf die Wissenschaften zu beziehen". Dies erscheine umso sinnvoller, als die Grenze zwischen beiden um 1800 "allererst gezogen" worden sei.

Behandelt werden zum einen so herausragende Literaten wie Lessing, Goethe, Jean Paul, Tieck oder Klopstock. Doch ist auch dem weithin unbekannten Jacob Hermann Obereit ein Aufsatz gewidmet. Der Schweizer Mediziner beteiligte sich lebhaft an den metaphysischen, theologischen und moralphilosophischen Disputen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zwar wurde er seinerzeit von den namhafteren Angehörigen der literarischen und philosophischen Zünfte nicht unbeachtet gelassen, doch als eher "skurriler Gegner" kaum ernst genommen, sondern eher als "eine Art versponnene touristische Attraktion" bespöttelt. "Magus" etwa nannte ihn Goethe in vermutlich leicht ironischer Anlehnung an den im Allgemeinen auf Hamann bezogenen Ehrentitel.

Gleich zwei der Beiträge widmen sich der Melancholie, beziehungsweise ihrer damals als solche verstandenen Sonderform, dem Heimweh. Harald Neumeyer zeigt auf, dass sowohl die Medizin als auch die Künste an einem "Komplex von Vorstellungen" partizipierten, "in dem spezifische Gesten, Handlungen, Orte usw. sich zu Zeichen verfestigten", mit denen auf Melancholie verwiesen wurde. Die "wissenschaftliche Rede" über sie habe "Funktionen der Rede des Mythos" wiederholt und sei letztlich "selbst mythische Rede" gewesen. So sei der wirkungsmächtigste Aspekt der medizinischen Melancholietheorien nicht ihre Wissenschaftlichkeit gewesen, sondern "ihre Bildlichkeit und deren Effekt". Anhand von Metaphorisierungen habe sie "Bilder produziert", die als real genommen worden seien. Dies wird durch ein Beispiel illustriert, das Siegfried Gröf in seinem Beitrag "Diagnose: Heimweh" liefert: Mediziner wollten bei der Obduktion Erkrankter gebrochene Herzen vorgefunden haben. Gröf geht dem Verständnis des Heimwehs als tödlicher Krankheit nach, von der insbesondere Schweizer Söldnerheere heimgesucht wurden. Eine Besonderheit, für die Johann Jakob Scheuchzer seinerzeit die dünne Luft der Schweizer Bergwelt verantwortlich machte.

Erwähnt sei auch der Beitrag Thomas Langes, der unter dem Titel "Das Wissen der Bilder" die Spezifika der "nichtdiskursiven Formationen des bildnerischen Prozesses" gegen Interpretationsversuche entlang der "Schemata linguistischer Formationen" überzeugend verteidigt.

Titelbild

Thomas Lange / Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
297 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826019024

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