Zerrissen zwischen Kulturen

Marko Martins eigensinniger Hauptstadtroman "Der Prinz von Berlin"

Von Tobias RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Rüther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Prinz von Berlin" entführt den Leser in die Welt von Jamal Kassim, einem jungen Libanesen, der zum Ingenieursstudium nach Berlin kommt und hier sein coming out erlebt. Jamal stammt aus Beirut. In Deutschland sind seine Tage von Beginn an gezählt: vier Jahre Aufenthalt sind ihm genehmigt, er aber will sieben Jahre bleiben, oder besser gleich für immer. Denn Jamal ist heimisch geworden in Berlin. Er hat seinen Weg genommen von der Matratze in der Moabiter Wohnung des Onkels Ziyad zum Kreuzberger Kottbusser Tor in seine "Eros-Bude". Die taufte er so, weil sie der Vermieter zukleisterte mit Plakaten Eros Ramazottis, und die bald Ort sexueller Eskapaden wird. Jamal bewegt sich immer gewandter in den Koordinaten des neuen Berlin, wandert vom "dark room" in "Tom's Bar" zum berüchtigten "Kit Kat Club". Dort und überall anders auch hat er Sex. Am Wannsee etwa oder in den austauschbaren Wohnungen namenloser Studenten. "Stell dir eine Welt voller Zimmer, Wände und Türen vor, und du - wohlgemerkt ein lebendiges Wesen und nicht irgendein körperloses Etwas - treibst durch sie alle hindurch, bleibst und gehst, kehrst ganz unverhofft wieder. Zwei Jahre lang."

Marko Martins Buch ist ein eigensinniger Hauptstadtroman. Er weist alle Zuschreibung weit von sich, mit denen das Berlin der vergangenen Jahre klassifiziert wurde, er verweigert sich dem 'hype' und bebildert vielmehr dessen Folgekosten: die Sklavenarbeit auf den Baustellen am Potsdamer Platz, auf denen Jamal Geld verdient, um sich eine Scheinheirat zu kaufen. Ganz nebenbei führt der Roman das alte und neue Berlin zusammen, zeigt kultische Orte West-Berlins - den Savignyplatz in Charlottenburg oder den Schöneberger Schwulenkiez am Winterfeldtplatz - und solche, die es im geeinten Berlin noch werden wollen. Um den Mythos des "Kit Kat Club" hat sich Marko Martin mit diesem Buch jedenfalls verdient gemacht.

Dafür überfordert der Autor seinen Jamal, indem er ihm eine ironische Bewegungsfreiheit im Gastland andichtet, die ein Austauschstudent nach vier Jahren Berlin kaum aufbringen kann. Es mag angehen, dass Jamal nach kurzer Zeit den Jargon der "Studis" beherrscht, dass er die immer gleichen Altbauten von Berlin Mitte sämtlich ihren Bewohnern zuordnen kann. Aber wenn er über "altlinke Kolumnentrottel" spottet, wenn ihm beim einzigen heterosexuellen Verkehr Regine Hildebrandt im Kopf herumspukt, er über tschechische Romane stöhnt und ihn seine Vertraute Katja an Gunda Röstel erinnert, dann gerät die ohnehin mit Konflikten überfrachtete Figur aus den Fugen.

Es scheint, als begliche hier der Kulturjournalist Marko Martin, dessen Artikel zeitweise zum Besten gehörten was der Berliner "Tagesspiegel" druckte, offene Rechnungen. Das liest sich alles komisch, und meist hat Marko Martin mit seinem Überdruss vollkommen recht. Dem zwischen Berlin und Beirut zerrissenen Hauptdarsteller Jamal indes tut es nicht gut, im Namen des Autors Kommentare zur Stimmungslage der Nation und dessen Feuilleton abgeben zu müssen.

Jamal fliegt nach Beirut zurück, um seine Eltern für ein paar Tage zu besuchen. Den Leser, der sich bis hierhin durch einen Wust an Erzählung gearbeitet hat, entschädigt Martin nun mit einer Prosa, die andere junge deutsche Gegenwartsliteratur und leider auch weite Strecken seines eigenen Romans in den Schatten stellt. Jamal verwirrt die Heimkehr nach Beirut zutiefst. Es verstört ihn das Versteckspiel der dort rasch gewonnenen schwulen Freunde, die sich im Dunst der Dampfbäder oder in Absteigen lieben müssen. Hastig und immer in Gefahr, entdeckt zu werden. Der Kreis, der sich unweigerlich zu schließen scheint um die im Verborgenen lebenden Schwulen, beengt Jamal, den unantastbaren Prinzen von Berlin: "Das uns bricht mir das Genick". Er fliegt zurück nach Deutschland und fasst einen Entschluss. Ob er ihn in die Tat umsetzen wird, bleibt bis zur allerletzten Seite ungewiss.

Bis zum Flug nach Beirut benötigt Marko Martin 357 Seiten, um seinen Ton zu finden. Es folgen 100 weitere Seiten, um darin zu schwelgen, und noch einmal 100, um zum Ende zu gelangen. Womit recht genau der außerordentliche Umfang dieses Debüts berechnet ist - und seine Schwäche zugleich. Denn Marko Martins Erzähler ist ein Schwadroneur. Wer soll das alles nur lesen, was da angesammelt ist an Szenen, Einfällen, Einsichten? Ein paar entschlossene Striche, und aus dem Ungetüm an Roman wäre ein stimmiger und unbenommen vielstimmiger Text geworden.

Titelbild

Marko Martin: Der Prinz von Berlin.
Quadriga Verlagsgesellschaft, Weinheim 2000.
559 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 388679346X

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