Schiller

Von vorgestern, von gestern und von heute

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die hier anzuzeigenden Schiller-Publikationen sind zwar kaum auf einen Nenner zu bringen, doch lassen sie Vor- und Nachteile einer dokumentierenden und kommentierenden Beschäftigung mit diesem Autor erkennen, der das Interesse von Wissenschaft und (populärer) Publizistik weiterhin beansprucht.

Dreiundvierzig Jahre alt ist Gero von Wilperts Schiller-Chronik, die 1958 erstmals bei Kröner erschien und nun bei Reclam eine Neuausgabe erfuhr. Anders als die Goethe-Philologie, die auf des Weimarers eigene Aufzeichnungen in den autobiographischen Schriften oder in den Tages- und Jahresheften zumindest epochenweise zurückgreifen kann, ist die Schiller-Forschung auf die Auswertung sekundärer Quellen angewiesen, will sie eine detaillierte, phasen- und taggenaue Übersicht über Schillers Lebens- und Werkgeschichte gewinnen. Wilperts Chronik bietet eine bis heute nicht übertroffene quellengestützte Darstellung, die im Satzspiegel jeweils links mit den Datierungen der Phasen überschrieben ist, während auf der rechten Seite für die entsprechende Phase charakteristische Ereignisse vermerkt sind (Arbeit am Don Carlos, Krankheit Lottes). Die Ungleichnamigkeit solcher Titel muss in der Chronik nicht stören, wohl aber fällt die falsche Nähe des Chronisten zu Schillers Ehefrau ("Lotte") als Relikt einer Zeit auf, die literarische Heldinnen oder geschichtliche Frauenfiguren namentlich noch gern in den Verniedlichungsformen wiedergab. Charlotte von Lengefeld heißt seit ihrer Verehelichung in der Chronik Lotte, während Schiller niemals Fritz genannt wird.

Der grundsätzliche Nachteil dieser Chronik besteht jedoch darin, dass die Quellen nicht identifiziert sind. Kein Leser, der sich nicht auf eigene Recherche begibt, kann wissen, ob die Angaben der Chronik zuverlässig sind. Dem Prinzip der Überprüfbarkeit als wissenschaftlichem Grundkriterium hält die Chronik daher nicht stand. Gleichwohl ist sie nützlich, weil die genannten Daten dem Leser die eigene Suche, beispielsweise in chronologischen Briefeditionen, erleichtern. Der Gefahr indessen, dass mit der Chronik ungeprüft Authentizität verbunden wird, ist damit nicht begegnet.

Ebenfalls dokumentarisch intendiert ist die Briefauswahl, die Helmut Koopmann auf immerhin 600 Seiten vorlegt. Nach vierzehn Seiten Einführung folgt eine Editorische Notiz, die als Quelle der Briefe die Schiller-Nationalausgabe nennt und für Goethe-Texte die Weimarer Ausgabe. Merkwürdig erscheint diese letztere, auf Goethe bezogene Angabe insofern, als der Band keinen einzigen vollständigen Brieftext Goethes enthält, wiewohl die entsprechende Rubrik mit "Der Briefwechsel mit Goethe" überschrieben ist. Ein Briefwechsel also, dem der Gegenpart fehlt!

Die Briefauswahl ist nach Adressaten geordnet, was notwendig zu zeitlichen Überschneidungen führt. Kurze Einführungen zu jedem Abschnitt treten an die Stelle eines für eine derartige Ausgabe im Grunde unverzichtbaren Sachkommentars.

Schillers Briefe sind in mehreren wissenschaftlichen Ausgaben (Jonas, Nationalausgabe) greifbar. Wenn hier eine Briefauswahl vorgelegt wird, so ist diese offenbar an ein breites Publikum adressiert, dem aber viele Gegenstände der Briefe schlicht unverständlich bleiben müssen, wenn sie nicht kommentiert werden. Ein Beispiel unter vielen: Wenn im Brief vom 1.November 1794 an Ludwig Ferdinand Huber vom "3ten Band der Ansichten" die Rede ist, weiß nur ein Kundiger, dass von Georg Forsters "Ansichten vom Niederrhein" gesprochen wird. Aber nicht nur, dass unkommentierte Briefe von heutigen Lesern ohne Fachkenntnisse kaum angemessen verstanden werden können. Darüber hinaus führt das Register auch in die Irre, wenn etwa Schillers Schwägerin einmal unter dem Namen "Beulwitz, Caroline von" erwähnt wird, ein anderes Mal unter "Wolzogen, Friederike Sophie Caroline, Freiin von" erscheint, ohne dass ein Querverweis die Identität der Figur bestätigen würde. Offenbar ist diese Kongruenz auch der für das Register zuständigen (ungenannten) Hilfskraft verborgen geblieben. Da ist Wilperts Register verlässlicher mit dem Eintrag: "Wolzogen, Karoline von, geb. von Lengefeld, gesch. von Beulwitz".

Man mag derartige Irritationen für unwesentlich halten, doch wiegen sie schwerer unter der Voraussetzung, dass ein renommierter Schiller-Forscher einen Band für ein Laienpublikum vorlegt mit dem Ziel, diesem Schillers Briefproduktionen zu erschließen. Auch die teils hölzern geschriebenen, teils redundanten Zwischeneinleitungen der einzelnen Briefkomplexe sind kaum geeignet, die Distanz der Jahrhunderte zu überbrücken. Es stellt daher kein erhebliches Wagnis dar, dem Band ein frühzeitiges Schicksal im modernen Antiquariat der Versandbuchhandlungen zu prognostizieren. Weniger Briefe, kombiniert mit entsprechenden Antworten der Adressaten, beide sorgfältig kommentiert: daraus hätte ein farbiges, lebendiges Porträt Schillers, seiner familiären und sozialen Umgebung, seiner Zeit entstehen können. Der Einbandtext des Bandes spiegelt vor, es handele sich um eine "Darstellung von Schillers Leben im Spiegel seiner Korrespondenz mit führenden Zeitgenossen und Freunden." Abgesehen von "führenden Zeitgenossen": wen führten sie denn? Unter "Korrespondenz" vermerkt der Duden auch heute noch "Briefverkehr, -wechsel". Ist es da überzogen, von einer Irreführung des Lesers zu sprechen?

Weitaus seriöser als Koopmanns Briefauswahl erscheint die in der Sammlung Metzler erschienene Dissertation von Götz-Lothar Darsow, die den schlichten Titel "Friedrich Schiller" trägt. Im Unterschied zu früheren Bänden der Reihe, in denen weitgehend Forschungsergebnisse zusammengetragen und referiert wurden, erhebt das Buch von Darsow andere Ansprüche. Gewiss sammelt auch Darsow die Ergebnisse der Forschung, aber er wählt bereits auf dieser Ebene in deutlicher, Akzente setzender Weise aus und gliedert das Vorhandene ein in den Zusammenhang eigener Darstellung, d. h. er referiert nicht nur, sondern verarbeitet die Forschungsresultate, indem er sie aufeinander bezieht und neue Überlegungen anknüpft. Dabei kommen neue - oder alte? - Forschungsansätze wie der Blick auf Körperformen und Körpersprache im Kontext von Physiognomik und Pathognomik durchaus zu ihrem Recht. Auch der Biographie werden in neuer Weise Gesichtspunkte abgewonnen, indem der Selbstfindungsprozess Schillers in den Zusammenhang ökonomischer und körperlicher Krisen (Krankheiten) gerückt wird. Die Verbindung von Krankheit und Theorie fußt auf Schillers eigenen Gedanken über die Entsprechungs- und Widerspruchsverhältnisse von Körper und Geist, so dass der moderne Blick nur einholt und aus gegenwärtiger Perspektive überdenkt, was Schillers Dissertation bereits vorgegeben hatte, und was zwischenzeitlich deswegen vor allem vergessen worden war, weil der Idealist Schiller noch einmal idealisiert wurde, statt den Idealismus als Funktion und Resultat der subjektiven Verarbeitung von Malaisen und Krisen zu verstehen. Man muss nur die drei Seiten über "Anmut und Würde" lesen, um die Produktivität eines Verfahrens zu erkennen, das Schillers Freiheitsbegriff aus seinen Bedingungen herleitet, statt ihn zum wiederholten Male nachzubeten.

Als exemplarisch für die Vielschichtigkeit der Methode Darsows ließe sich auch der Abschnitt über "Die Jungfrau von Orleans" anführen, in dem das tragische Geschehen als Charismaverlust gedeutet und das Stück zudem in den Kontext der zeitgenössischen Rezeption gerückt wird.

Darsows Schiller-Studie bezieht - jeweils auf engem Raum - alle produktiven Ansätze moderner Werkanalyse und Biographistik ein, verfällt jedoch nie den modischen Trends der Enthistorisierung und Dekonstruktion. Sie stützt sich auf kulturanthropologische Denk- und Forschungsaspekte, degradiert aber Autor und Werk nicht zum beiläufigen Epiphänomen einer universalistischen Kulturgeschichte. Kurzum: Es handelt sich um eine - im Übrigen sehr dicht geschriebene - höchst informative und neuartige Schiller-Darstellung, deren Informationswert nicht zuletzt darin liegt, dass der Verfasser Schiller nicht in museale Schubladen der Geschichte steckt, sondern, ihn drehend und wendend, stets aufs Neue befragt. Darsow will wissen, weshalb es sich lohnt, Schiller heute zu lesen und ihn anders zu lesen als die Vertreter der Geistes- und Ideengeschichte, die in ihm nur den etwas harmonischer gestimmten Kant-Schüler wahrzunehmen vermochten. Darsow hingegen interpretiert Schillers Werke als Schnittpunkte von Personalität, Geschichte und Poetik. Daraus erwächst kein glattes und rundes, aber ein interessantes und für den heutigen Rezipienten verständliches, nachvollziehbares Schiller-Bild.

Bedauerlich ist allenfalls, dass der Band keine kapitelbezogene Bibliographie mehr enthält, wie es in der Metzler-Reihe früher üblich gewesen ist. Gleichwohl handelt es sich um ein heutiges Buch, das den Lesern, die hinter die Maske des klassischen Namens Schiller blicken wollen, sehr empfohlen werden kann.

Titelbild

Götz-Lothar Darsow: Friedrich Schiller.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
260 Seiten, 13,70 EUR.
ISBN-10: 3476103307

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gero von Wilpert: Schiller-Chronik. Sein Leben und Schaffen.
Reclam Verlag, Leipzig 2000.
400 Seiten, 8,20 EUR.
ISBN-10: 3150180600

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Koopmann: Schillers Leben in Briefen.
Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 2000.
600 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3740011076

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