Lyrik des Expressionismus

Silvio Viettas Gedichtanthologie in der vierten Auflage

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Großstadterfahrung ist innerhalb der expressionistischen Lyrik das Thema schlechthin, weshalb Silvio Vietta ihr in seiner Lyrikanthologie auch ein ganzes Kapitel widmet. Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit, die eine moderne Großstadt auslösen kann, kommen etwa in der Lyrik Georg Heyms zum Ausdruck, in Gedichten wie "Der Gott der Stadt", "Die Dämonen der Städte" oder "Der Krieg": die verwirrenden, zerstörerischen Kräfte moderner Zivilisation und Großstadtwelt personifizieren sich in einem dämonischen Gott. Alfred Lichtenstein, Jakob van Hoddis, Ernst Stadler, Gottfried Benn, Georg Trakl, Alfred Wolfenstein oder Johannes R. Becher haben Großstadtgedichte verfasst. Charakteristisch ist hier oft der Einsatz personalisierender Metaphern und die Verdinglichung des Subjekts. Sie verdeutlichen die Eigendynamik der Objektwelt, der das Individuum in der modernen Großstadt ausgeliefert ist. Kaum anders ist das bei den Autorinnen, die in der Zeit des Expressionismus geschrieben haben und die Vietta nicht anführt: Emmy Hennings ("Nach dem Cabaret"), Sylvia Harden ("Im Cafe"), Claire Goll ("Die untergehende Stadt"), Mechtilde Lichnowsky ("Außensteher I", "Außensteher II"), Elisabeth Janstein ("Vorstadtabend"), Henriette Hardenberg ("Der Vogel") oder Martina Wied ("Das Gespenst der großen Stadt", "Am Rand der Stadt").

Was Viettas Lyrikanthologie trotz solcher Lücken unverzichtbar macht, sind vor allem auch die eingangs abgedruckten kulturtheoretischen Essays von Zeitgenossen, die den sozial- und kulturhistorischen Hintergrund zu den lyrischen Texten liefern. Georg Simmels für die Schriftsteller seiner Zeit so wichtiger soziologischer Essay "Die Großstadt und das Geistesleben" etwa beschreibt das "Überwuchern" der "Organisation von Dingen und Mächten" in der Moderne beispielhaft an der Großstadt: "Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht." Dieser Text und andere hier in Auszügen abgedruckte theoretische Essays "zum Verständnis der Epoche" sowie Viettas fundierte Erläuterungen zur Einführung der jeweiligen motivisch gegliederten Kapitel ("Zerfall des Ich: Wahnsinn, Selbstmord, Tod, Verwesung"; "Weltende"; "Vorwegnahme und Erfahrung des Krieges"; "Moderne Arbeitswelt"; "Gott ist tot - Gespräche mit Gott"; "Ekstasen der Zärtlichkeit"; "Landschaften, Natur"; "Der neue Mensch"; "Grotesken") verdeutlichen den Hintergrund, vor dem die Veränderungen der modernen Ästhetik erklärbar werden, wie sie z. B. im Reihungsstil der Simultangedichte von Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein zum Ausdruck kommen. Indem diese beiden Autoren die heterogenen Wahrnehmungs- und Reflexionselemente der das moderne Ich verwirrenden und dissoziierenden Vielfalt der Großstadteindrücke aneinander reihten, versuchten sie der Befindlichkeit des modernen Großstadtindividuums formal angemessen Ausdruck zu verleihen. Die Kurzbiographien zu den einzelnen Schriftstellern am Ende der Anthologie schließlich sind hilfreich bei der weiteren Kontextualisierung der Gedichte.

Fazit: Vietta zeigt mit seiner nach Themenkomplexen angeordneten Auswahl, dass die expressionistische Lyrik die frühe und zugleich fundamentale Auseinandersetzung mit der Zivilisation der Moderne, der Großstadt, des Krieges, des Werteverlusts und der damit einhergehenden Ich-Dissoziation darstellt. In dieser Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Moderne lässt sich die eigentliche Substanz der literarischen Bewegung des Expressionismus verorten. Was auch die vierte, verbesserte Auflage nicht zeigt: wie viele Autorinnen - neben Else Lasker-Schüler - Anteil an ihr hatten.

Titelbild

Silvio Vietta (Hg.): Lyrik des Expressionismus. 4. verbesserte Auflage.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1999.
274 Seiten, 8,10 EUR.
ISBN-10: 3484190361

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