Ritsch, ratsch, klick!

Rolf Krauss' unscharfer Blick auf Fotografie- und Literaturgeschichte

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ritsch, ratsch, klick!" Wer in den siebziger Jahren aufgewachsen ist, wird sich an diesen Slogan sicherlich noch erinnern, der im Fernsehen und in den Printmedien für einen neuen Typ des Fotoapparats warb. Da die Pocketkamera einfach handzuhaben war, avancierte sie rasch zum begehrten Objekt vieler Hobby- und Freizeitfotografen. Auf Jahre hinaus blieb sie die Kamera für den fotografischen Schnellschuss, der in der Regel leicht unscharfe Bilder produzierte, fast quadratisch, praktisch, aber eben doch nicht gut. Rund drei Jahrzehnte sollten jedoch ins Land gehen, bis "Ritsch, ratsch, klick!" auch in die Germanistik Einzug fand.

Der Fotohistoriker Rolf H. Krauss hat daraus eine literaturwissenschaftliche Verfahrensweise entwickelt und sie in seiner Dissertation erstmals der Fachwelt vorgeführt. Krauss vertritt darin die These, dass die Erfindung der Fotografie spätestens seit 1850 bestimmte literarische Sehweisen beeinflusst habe, und versucht sie anhand der Analyse ausgewählter Texte von Autoren des 19. Jahrhunderts wie etwa Karl Gutzkow, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe oder Adalbert Stifter zu verifizieren. Die zweifelhafte Qualität des "Ritsch" offenbart sich ein erstes Mal bei der Auswahl der Texte: da Krauss in seiner Einleitung eine Inkubationszeit von einem Jahrzehnt annimmt, ehe fotografische Sichtweisen in der Literatur wirksam geworden seien, hätte man erwarten dürfen, dass er im Falle von Gutzkows "Die Ritter vom Geiste" die Erstfassung des Romans von 1850/51 zur Grundlage seiner Betrachtung macht und nicht die sechste Auflage von 1869, die (wie schon die fünfte) gegenüber der Erstfassung auf die Hälfte des Umfangs gekürzt wurde. Dass bei der autorisierten Revision des Textes eine Fülle von Architektur- und Ortsbeschreibungen, in denen Krauss fotografische Bilder zu entdecken glaubt, verloren gegangen sind, zieht Krauss weder in Erwägung, noch scheint er überhaupt um die Editionsgeschichte des Romans zu wissen. Nicht weniger nonchalant als im Umgang mit Texten verfährt Krauss mit den Buchtiteln. Im Falle von Fontanes "Effi Briest" mag er sich gar nicht so recht entscheiden, wie nun der Vorname der Protagonistin zu schreiben ist, so dass er dem Leser mitunter sogar auf ein und derselben Seite die Schreibweisen "Effie" und "Effi" anbietet. Ein Blick auf das Titelblatt des behandelten Romans hätte zweifellos alle diesbezüglichen Unsicherheiten des Doktoranden beseitigen können. Dass Krauss die Texte, die er in seiner Dissertation vorstellt, tatsächlich auch gelesen hat, ist anzunehmen. Nicht zur Kenntnis genommen hat er dagegen - und hierin zeigt sich die Methode des "Ratsch" - die einschlägige Forschungsliteratur zu den von ihm behandelten Autoren, bzw. reduziert sie auf einige wenige hausinterne Publikationen. Dass es sich dabei nicht um ein Versehen, sondern um ein bewusstes Vorgehen handelt, gibt er in seiner Einleitung unumwunden zu: "Bei allen Texten, die ich untersuchte, ignorierte ich dabei die zum Teil reichlich vorhandene Sekundärliteratur."

Die Ermittlung und kritische Überprüfung des erreichten Forschungsstandes ersetzt Krauss durch ein "rein pragmatisches Vorgehen am Text", denn "je literaturwissenschaftlich unbefangener ich mich diesem Vorgehen unterzog, desto deutlicher mußten etwaige Spuren photographischer Technik erkennbar werden." Die Schlussfolgerungen, die sich aus einer derartigen Vorgehensweise bezüglich der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergeben, sind leider ebenso fehlbelichtet wie das Verfahren selbst: "Ganz gleich, wie man das Phänomen des bürgerlichen Realismus erklärt, ob theoretisch in der Tradition des Idealismus stehend, [sic!] oder aber politisch als Folge der gescheiterten Anstrengungen des deutschen Bürgertums: die Grundhaltung von Kunst und Literatur in dieser Zeit ist traditionell und nicht in der Lage, die sich im Zeichen der industriellen Revolution dramatisch verändernde soziale Wirklichkeit zu reflektieren." Die Ernsthaftigkeit, mit der Krauss gegen Ende seiner Dissertation Sätze wie diesen formuliert, der ja nicht nur seine Ignoranz gegenüber dem bereits erreichten Forschungsstand zum Ausdruck bringt, sondern auch seine Arroganz gegenüber einer Fachdisziplin, die weder sein Metier ist, noch werden soll, mag erschrecken. Seine Analysen, die sich vielfach nur auf Textausschnitte beschränken, ohne den Kontext zu berücksichtigen, bleiben weitgehend dilettantisches Stückwerk und werden den Anforderungen an eine germanistische Dissertation, bezieht man zudem noch die Vielzahl von Verstößen gegen die Konventionen von Orthographie und Interpunktion mit ein, in keiner Weise gerecht.

Dass Krauss in dieser wie in seinen früheren Publikationen ein profundes fotohistorisches Wissen entfaltet, soll - "Klick!" - hier nicht verschwiegen werden. Vom Blick aus dem Fenster (Kretschmann, Hoffmann, Raabe) als dem fotografischen Archetyp auszugehen und dessen literarische Darstellung in Beziehung zu setzen zu den jeweils vorherrschenden optischen Projektions- und Abbildungsverfahren (Camera obscura, Panorama u. a.), ist zweifellos ein ebenso intelligenter Ansatz wie die Untersuchung der zahlreichen Beschreibungen innerhalb der Literatur des 19. Jahrhunderts. Es hätte allerdings mehr als nur eines Minimums an literaturwissenschaftlicher Analysefähigkeit und Akkuratesse bedurft, um beide Disziplinen, Fotogeschichte und Philologie, fruchtbar zusammenzuführen. Ungeachtet manch interessanter Details, über die es sich auch in Zukunft nachzudenken lohnt, wäre viel Retusche nötig, um die zahlreichen Mängel der Arbeit zu beheben.

Titelbild

Rolf H. Krauss: Photographie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2000.
174 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3775708545

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