Von neuen Jobs und alten Seilschaften

Ingo Schulzes Roman aus der ostdeutschen Provinz

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im neuen Roman von Ingo Schulze (* 1962 in Dresden) werden 29 einfache Geschichten erzählt, Geschichten aus der ostdeutschen Provinz zwischen Altenburg und Berlin. Jeder Geschichte ist ein kurzes Resumee im Kursivdruck vorangestellt. Knapp und lakonisch wie die vorangestellten Prosavignetten sind auch die Texte. Sie erzählen von der Frau eines Politikers, die eine Radlerin überfährt und an Alpträumen leidet; von Conni, die sich in einen Makler aus dem Westen verliebt; von einem Taxifahrer, der ein Messer in den Rücken bekommt; von neuen Jobs und alten Seilschaften. Es passiert das, was zwischenmenschlich passieren kann: "Lydia is von dir weggelaufen. Und zu mir is sie gekommen." Schlichte Beobachtungen aus dem Tageslauf, vom Arbeiten oder Träumen prägen die Geschichten vom nicht immer einfachen Leben in der ehemaligen DDR.

Ingo Schulzes "Simple Storys" sind exemplarisch: Sie erzählen, wie es im Osten Deutschlands seit 1989 zuging. Sie erzählen von den Gewinnern und Verlierern der Wiedervereinigung, von den Drückerkolonnen der Versicherungen, von korrupten Beamten und gequälten Unternehmern, von einer Fülle wechselnder Figuren, wechselnder Handlungsfäden und Schauplätze.

Ingo Schulze nötigt uns mit seiner schlichten Prosa und seiner einfach genialen Titelei - "Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz" - die Frage auf, inwieweit es sich bei seinem Buch um "Stories", inwieweit um einen "Roman" handelt - inwieweit um eine gelungene Adaption und Transformation der englisch-amerikanischen Kurzgeschichte. Ingo Schulze ist kein Simplex, und der Texttyp, den er uns hier präsentiert, dürfte in der deutschen Literatur etwas ziemlich Einmaliges sein: Der Autor offeriert uns einen Roman, der aus einzelnen Geschichten zusammenwächst, die über die Figuren und ihre Relationen miteinander vernetzt sind.>

Irgendwo stand zu lesen, der Autor gestatte seinen Figuren keine Gefühle, keine Innenperspektive - er liefere nur Äußerlichkeiten. Damit ist etwas Wichtiges angesprochen, doch die These ist mißverständlich. Denn die "Simple Storys" sind ausschließlich aus der Perspektive der Figuren erzählt. Um die Sprechsituation zu charakterisieren, ist ein Vergleich mit der filmischen Reportage nützlich: Man stelle sich eine Kamera vor, die den wechselnden, aber wiederkehrenden Protagonisten an verschiedene Schauplätze folgt. Mal zeigt sie sie im Gespräch mit anderen, mal in wortloser Aktion, mal läßt die Regie die Figuren nur für das Kameraauge erzählen - wie sie bestimmte Situationen erlebt haben, was sie dabei gedacht, was sie gefühlt haben. Dadurch wird en passant das Innenleben der Figuren sichtbar, auch wenn die Kamera strickt bei neutralen Einstellungen bleibt. Was fehlt, ist der Kommentar einer übergeordneten Instanz. Den Autor muß man aus dem Off erspüren, an seinen Schnitten erkennen, an seinen Prosavignetten, die den Kapiteln vorangestellt sind, an der Art und Weise, wie und in welcher Folge er die einzelnen Sequenzen präsentiert, wen er zu Wort kommen läßt und wen nicht, wer Randfigur bleibt und was ins Zentrum rückt. Ingo Schulze tut dies virtuos und ist sich seiner Mittel offenbar völlig sicher. Das macht es seinem Leser leicht, seine Geschichten einfach gut zu finden.

Titelbild

Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz.
Berlin Verlag, Berlin 1998.
304 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3827000513

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