In Bewegung gesetzt

Inge Baxmann über Körperkulturen der Moderne

Von Katja SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tanz erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Aufwertung. Tänzerinnen wie die Amerikanerinnen Isadora Duncan oder Loie Fuller revolutionierten nicht nur den Tanz, indem sie ihn aus den starren Strukturen des klassischen Balletts lösten, sie förderten auch seine Reputation, da sie die Theater und Varietés verließen und vor intellektuellem und großbürgerlichem Publikum in Bibliotheken und Museen auftraten beziehungsweise - wie Fuller - im eigenen Pavillon auf der Weltausstellung. Rudolf von Laban experimentierte mit der Gestaltungskraft der Bewegung und ihrer Notation im Umkreis der Lebensreformer. Der Ausdruckstanz boomte. Laien und professionelle Tänzer betraten die Podien, fanden sich zu Bewegungschören zusammen, die in den Massenaufmärschen der Olympiade 1936 kulminierten. Girls warfen in großen Revuen wie auf der Filmleinwand die Beine und ordneten ihre Körper zu ornamentalen und geometrischen Mustern. Der Tanz war ein Paradigma der Moderne geworden, anschlussfähig an die Diskurse der Zeit.

Inge Baxmann untersucht in ihrem Buch "Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne" - einer überarbeiteten Fassung ihrer Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt-Universität -, welche Funktion der Tanz in "jener kulturhistorischen Konfiguration einnimmt, die sich als Suche nach der sinnenbezogenen Gemeinschaft umschreiben lässt". Dafür holt sie weit aus: Sie beginnt bei Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks als "erste[m] umfassende[n] Versuch einer Massenkunst für ein Massenpublikum", in dem Wagner im Kunstmythos die Verbindung der Künste als eine Verbindung der Sinne propagierte. Friedrich Nietzsche überwand das dualistische Prinzip Wagners zugunsten einer "Dekonstruktion der Denktraditionen, die das westliche kulturelle Selbstverständnis bestimmen": Resonanz, Miterleben, Ekstase in "sinnenbezogener Gemeinschaft". Das schwebte beiden vor, damit legten sie das Fundament für eine Neubewertung der Mimesis für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.

"Gemeinschaft versus Gesellschaft" (Ferdinand Tönnies) ist die Leitopposition dieser Untersuchung, die Medizin, Psychoanalyse, Soziologie, Massenforschung, Ethnologie, Nationalismus, Kommunismus, Faschismus, Geopolitik, Technik, Film, Tanz und Körperkultur sowie den Kulturvergleich zwischen Deutschland und Frankreich einbezieht, um deutlich zu machen, welche Strategien entwickelt wurden, um in einer als (bedrohlich) verändert empfundenen Lebenswelt Versuche zu unternehmen, "über eine Wahrnehmungs- und Sinneskultur gemeinschaftsstiftende Energien zu befreien". Im Zentrum dieses Versuchs stand der Körper, der zum einen Auskunft geben sollte über subkutanes Wissen (in der Hypnose, in der Hysterie, im ekstatischen Tanz) und verschüttete Kreativität und zum anderen an die zunehmende Technisierung und Beschleunigung des Lebens angepasst werden konnte ("Taylorisierung des Körpers").

Der tanzende Körper vermittelte Ordnungsmuster, machte Gemeinschaft kollektiv erlebbar und formte einen 'nationalen Körper', der damit "zur direkten Einschreibungsfläche politischer Diskurse [wurde], die den nationalen Habitus und die politischen Affekte im Körper und im Unbewußten festmachten."

Baxmann gelingt es in der Fülle der Diskurse, den Leser zu orientieren. Sie unterfüttert die gewählten Begriffe "Mythos" und "Gemeinschaft" und stellt in einer Zusammenschau dar, wie die verschiedenen Diskurse auf zentrale Thesen hin gelesen werden können. Dabei kommen allerdings konkurrierende Funktionen der "Texte" zu kurz, da sie auf den einen Nenner ihrer Großthese, der genannten Leitopposition, reduziert werden.

Enttäuschend ist auch die Detailebene, zumindest in den Kapiteln, die den Tanz betreffen - der ja immerhin im Zentrum des Buches stehen soll, da die "Körper- und Tanzkultur [...] in dieser Zeit die verschiedenen Diskurse synthetisiert (und zugleich für ein Massenpublikum vulgarisiert)".

So richtig diese Beobachtung auch ist, so unbefriedigend bleiben konkrete Aussagen zum Tanz. Dass nicht das ganze Spektrum des Tanzes der Zeit berücksichtigt wird und nur über den zum Massenspektakel führenden Zweig reflektiert wird, mag angesichts der gebotenen Konzentration lässlich sein. Aber dann sollten zumindest die Informationen stimmen: Rudolf von Laban war beileibe nicht nur Tanztheoretiker, sondern gleichermaßen Choreograf und Ballettdirektor. Music Halls "propagierten nicht den systematischen Bruch mit den Archiven kollektiver Erinnerungen wie Museen, Bibliotheken, Akademien", sondern boten weitere alternative Tanzorte. Und nicht Francis Picabia "inszenierte" das Ballett "Relache", zu dem Eric Satie die Musik und René Clair den berühmten Film lieferte, sondern Jean Börlin choreografierte es, der bei Baxmann gar nicht erwähnt wird. Picabia regte es an und schrieb das Libretto.

Kleinkarierte Einwände vielleicht - aber hier rächt sich, dass Baxmann in einem Buch mit dem Schwerpunkt Tanz nur drei Titel an tanzrelevanter Sekundärliteratur auflistet. Und das letzterschienene Standardwerk zum Thema gar nicht nennt: Gabriele Brandstetters "Tanz-Lektüren" (1995), zu dem Baxmanns Studie eine erhellende Ergänzung liefert.

Titelbild

Inge Baxmann: Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
288 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770533666

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