Marion Strunks meisterhafter Essay zur Macht des Kinos über die Gefühle

Ein verspäteter Brief an die Autorin

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liebe Frau Strunk, im Dezember 1999 hatten Sie mir das von Ihnen herausgegebene Bändchen "Vom angenehmen Leben" zugeschickt. Das Attribut "angenehm" ist viel zu schwach. Ihr "Vorwort", das dem Buch ein einziges Wort voranstellt, trifft, worum es geht, viel besser: "Glück". Und es trifft auch etwas von dem Zustand, in dem ich gestern einen der Beiträge zu dem Buch gelesen habe. Warum erst jetzt?

Lesen und rezensieren wollte ich das Bändchen viel früher, und zwar zusammen mit etlichen anderen, die im Titel Auskünfte zur "Lebenskunst", zur "Kunst, glücklich zu sein" oder zur "Frage nach dem guten Leben" versprechen. Dass gegenwärtig so zahlreiche Bücher dazu angeboten werden, scheint ein symptomatisches Phänomen zu sein, dem ich nachgehen wollte. Gereizt hatte mich Ihr Band außerdem, weil ich die Autorinnen zweier Beiträge schätze: Christina von Braun und Elisabeth Bronfen. Und weil deren Titel mich interessierten: "Geheim-Weh. Die Sehnsucht des Subjekts nach Unerfülltem". Und: "Das Lied vom unsagbar schönen Glück. Douglas Sirks La Habanera".

Von der Lektüre hat mich jedoch einiges abgehalten - nicht zuletzt die synästhetische Aufmachung des Bändchens. Eine Rezensentin, der ich das Buch zur Besprechung anbot, gab es zurück, weil ihre Augen Schwierigkeiten mit der roten Schrift auf den rosafarbenen Seiten hatten. Mich selbst hat der Versuch, das Buch in Schrift und Bild den visuellen Sinnen angenehm zu machen, nicht so gestört wie das Parfüm, mit dem es auch noch den Geruchssinn ansprechen will.

Doch nun habe ich endlich gelesen. Was Christina von Braun über die seltsame Anziehungskraft des Fremden und Geheimnisvollen schreibt, über Krankheiten als "Lehrjahre der Lebenskunst und Gemütsbildung" (Novalis), über das Verschwinden der Geheimnisse in der Moderne, wie sie ihren eigenen Emotionen bei der Lektüre von Bernhard Schlinks "Der Vorleser" nachspürt und dem "Wechselverhältnis von Schriftlichkeit und Körperlichkeit", von dem dieser Roman erzählt, das ist anregend und erhellend. Ebenso, was Elisabeth Bronfen als gelehrige Leserin Lacans im Blick auf Sirks Melodrama über den sich ständig entziehenden Ort des Begehrens ausführt. Er scheint immer irgendwo zwischen vertrauter Heimat und Exil in der Fremde zu liegen.

Was ich dann allerdings von Ihnen selbst unter dem Titel "Die Lücke und das Glück" gelesen habe, hat mich begeistert. Hätte ich einen Preis für Essayistik zu vergeben oder eine hochrangige Stelle im Ressort Filmkritik anzubieten, würde ich keinen Moment in meiner Wahl zögern. Über das "Remake von Gefühlen" in neueren Filmen schreiben Sie so, wie ich es bislang kaum für möglich hielt. Die Macht des Kinos über unsere Gefühle überträgt sich in Ihrer Darstellung auf das Lesen. Doch wird sie außerdem mit analytischer Distanz bewusst gemacht. Wie im Rausch und zugleich bei hellwacher Verstandesklarheit geschrieben wirken ihre Ausführungen.

Wie Sie den Blick von "Titanic" weg-, einem neuen Gegenstand zuwenden, nebenbei die Assoziation an einen alten Sehnsuchts-Hit wecken und sich sogleich mitten in einem ganz anderen Sujet befinden, ist ein stilistisches Bravourstück: "Kein Schiff wird kommen. Der Film Strange Days, die seltsamen Tage, zeigt: Ein Chip wird kommen. Chips wie Clips und Clips wie Trips." Und schon sind Sie in der virtuellen Welt von "Emotionen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit". Vorher schon öffnen Sie mit einer beiläufigen Anspielung - "Schiffbruch mit Zuschauern" - weite Horizonte tradierter Reflexionen über die Lust am Schrecklichen. Auf dreißig Seiten insgesamt verdichten Sie mehr Einsichten, als andere auf dreihundert ausbreiten, zeigen nebenbei, was eine kunsttheoretisch fundierte Filmwissenschaft zu leisten vermag, machen auf Pathosgesten oder emotionale Wertigkeiten von Farbkontrasten aufmerksam oder liefern ein kurzes Lehrstück zur konstruktivistischen Bildtheorie.

Wird Kunst oder Literatur so analysiert wie von Ihnen, dann lässt sich damit mehr über die Organisation des Begehrens und Fühlens, über Glück, Unglück, gelungenes oder verfehltes Leben erfahren als aus all jenen Büchern, von denen oben die Rede war.

Liebe Frau Strunk, die verspätete Rezension zu dem Buch erscheint in Kürze. Ihr Wortlaut wird identisch sein mit dem dieses Briefes.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr Thomas Anz

Titelbild

Marion Strunk (Hg.): Vom angenehmen Leben.
Edition Howeg, Zürich 1999.
178 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 3857361875

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