Singles, die Miles Davis hören

Haruki Murakamis Roman "Gefährliche Geliebte" erzählt vom Sex

Von Kolja MensingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kolja Mensing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Toru Watanabe, 37, gehört zu den Menschen, die die Melodie ihres Lebens gefunden haben. Er sitzt in einer Boeing 747, die gerade auf dem Hamburger Flughafen gelandet ist. Aus den Kabinen-Lautsprechern ertönt die übliche leise Hintergrundmusik. Es ist eine Instrumentalversion von "Norwegian Wood". Toru erschauert, wie jedesmal, wenn er das Stück in den letzten achtzehn Jahren gehört hat: "Ich mußte mich nach vorn beugen und meinen Kopf mit beiden Händen umfassen, damit er mir nicht zersprang; so blieb ich sitzen. Eine deutsche Stewardess kam heran und fragte auf Englisch, ob mir nicht gut sei. Alles in Ordnung, antwortete ich, mir sei nur ein bißchen schwindlig." Während er darauf wartet, aus dem Flugzeug aussteigen zu können, trägt ihn die Melodie von "Norwegian Wood" zurück an jenen Nachmittag im Herbst des Jahres 1969, als Toru Watanabe ein Mädchen namens Naoko auf einem Spaziergang in den Bergen bei Kyoto das letzte Mal gesehen hat.

Haruki Murakamis Roman "Naokos Lächeln" reduziert gleich zu Beginn ein ganzes Leben auf eine Melodie und ein paar Zeilen von John Lennon und Paul McCartney. "This bird has flown" heißt es am Ende von "Norwegian Wood", und "Naokos Lächeln" - das hat man auf den ersten drei oder vier der insgesamt mehr als vierhundert Seiten des Romans bereits verstanden - erzählt nichts anderes als die Geschichte einer Liebe, die irgendwann davongeflogen ist: sie hat sich verflüchtigt wie der Windstoß, der an jenem Nachmittag im Herbst des Jahres 1969 über eine Wiese strich und Naokos Haar zerzauste.

Auch "Gefährliche Geliebte", seinen letzten auf Deutsch erschienenen Roman, erzählt Harukumi Murakami entlang einiger alter Songs, Jazzstandards in diesem Fall. Genau wie der Beatles-Song in "Naokos Lächeln" sind es Lebensmelodien, die in die Vergangenheit führen, ohne diese wirklich zurückzubringen. Das Thema dieser Romane ist die Erkenntnis, dass die vergangenen Zeiten sich langsam, aber unausweichlich von uns entfernen - und dass, obwohl gerade die Popkultur mit ihrer starken Bindung an Speichermedien wie die Schallplatte oder die CD seit fünfzig Jahren das Gegenteil zu beweisen versucht. Schließlich macht sie aus den alten Zeiten jederzeit wieder abrufbare und im Idealfall noch nicht einmal verknisterte oder verrauschte Oldies.

Haruki Murakami gehört zu der ersten Generation, die in Japan inmitten der Popkultur und ihren Widersprüchen aufgewachsen ist. Er ist 1949 geboren, ein Jahr nachdem sich die Langspielplatte aus Vinyl endgültig durchgesetzt hatte. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er mit amerikanischem Jazz und Detective Novels - in einem Land, das sich vom Zweiten Weltkrieg erholte und in wirtschaftlichem Erfolg und der Adaption westlicher Wertemuster nach einem neuen Selbstbewusstsein suchte.

In der "Gefährliche[n] Geliebte[n]" schreibt er unter anderem über das Schicksal seiner Altersgenossen, die ihren eigenen Weg der Erneuerung der Gesellschaft suchen und erst spät merken, dass sie damit scheitern müssen: "Unsere Generation war die erste gewesen, die der spätkapitalistischen Logik, der sämtliche nach dem Krieg noch verbliebenen Ideale zum Opfer gefallen waren, ein schallendes 'Nein!? entgegengebrüllt hatte [...]. Und hier war ich nun, mittlerweile selbst von dieser kapitalistischen Logik vereinnahmt und rekelte mich auf den Polstern meines BMW."

Toru Watanabe in "Naokos Lächeln" besucht am Ende der 60er Jahre eine Universität. Aus den ideologischen Gefechten und handfesten Barrikadenkämpfen seiner Kommilitonen hält er sich heraus. Er fügt sich in die Eigenschaftslosigkeit wie in ein Schicksal, das seiner Generation mit auf den Weg gegeben worden ist, und lebt als 18-Jähriger bereits wie ein vom Leben enttäuschter "Nowhere Man" mit ein paar Schallplatten und einigen Büchern in einem kargen Zimmer in einem Studentenwohnheim: "Die anderen hielten mich für einen künftigen Schriftsteller, weil ich immer für mich blieb und las, aber ich hatte natürlich keineswegs solche Ambitionen. Ich hatte überhaupt keine Ambitionen."

Menschen wie Toru Watanabe trifft man in allen Büchern von Haruki Murakami. Es sind Singles, die in ihren Apartments sitzen und sich alte Filme anschauen, die Miles Davis hören und Scotch dazu trinken. Das Schicksal hat Spuren in ihnen hinterlassen, so wie in Toru Watanabe, der mit Naoko die einzige wirkliche Liebe seines Lebens verloren hat. Aber diese Spuren sind wie Kratzer auf einer Schallplatte. Sie kehren regelmäßig wieder und jedes Mal wieder erschrickt man - auch wenn sich bereits nicht mehr so genau erinnern kann, bei welcher Gelegenheit man die Nadel einmal zu unvorsichtig aufgesetzt hat.

Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, der für seinen jüngeren Kollegen nicht besonders viel übrig hat, zählt Haruki Murakamis Romane zur "shimin shosetszu", zur Literatur, die von durchschnittlichen Menschen erzählt. Das ist durchaus abwertend gemeint, auch wenn Murakami selbst es vermutlich als Kompliment auffassen dürfte. Er steht in der Tradition der modernen amerikanischen Literatur und hat F. Scott Fitzgerald, Raymond Chandler und Raymond Carver ins Japanische übersetzt. Nachdem er zunächst sogar versucht hat, auf Englisch zu schreiben, hat er Teile ihrer Erzählstrategien und ihres Stils übernommen. Das Phänomen des "translation japanese", in dem Murakami zumindest für den japanischen Leser erkennbar schreibt, hat seinen deutschen Verlag DuMont dazu verleitet, die Romane "Mr. Aufziehvogel" und "Gefährliche Geliebte" aus der englischen Übersetzung ins Deutsche übertragen zu lassen. Das war ein reichlich fahrlässiges Vorgehen, da die englische Übersetzung zumindest von "Gefährliche Geliebte" anscheinend nicht sehr gelungen ist und ihre Fehler sorgfältig ins Deutsche mit übertragen wurden.

"Naokos Lächeln", das in Japan mehr als vier Millionen Mal verkauft wurde, ist nun von Ursula Gräfe nach dem Original übersetzt worden. Auch Toru Watanabe hat Sex, relativ häufig sogar, und Haruki Murakami erzählt davon diesmal auch in der deutschen Übersetzung, ohne auf umgangssprachliche Formulierungen angewiesen zu sein. Ein Penis ist ein "Penis", eine Vagina, auch wenn sie "warm und feucht" ist, eine "Vagina", und der Akt selbst vollzieht sich oft schlicht in einem "Eindringen".

Der lakonische Ton, mit dem Haruki Murakami und seine Übersetzerin Sex beschreiben, bricht das romantische Pathos von der in aller Ewigkeit verlorenen großen Liebe und auch die nicht weniger romantische Sehnsucht nach dem Tod, die die Figuren in "Naokos Lächeln" am dunklen Rand des Schattenreichs wandeln lässt: "Diese Melodie macht mich manchmal so traurig", sagt Naoko über ihr Lieblingslied "Norwegian Wood", einige Monate vor dem letzten Spaziergang mit Toru: "Ich weiß nicht warum, aber ich stelle mir vor, ich würde im Wald umherirren..."

Naoko begeht schließlich Selbstmord. Einen kleinen Tod gibt es nicht. Die körperliche Liebe von der Murakami schreibt, "ohne jede traurige Äußerung der Lust" vollzogen, ist wie die Stille, mit der Leerrillen die Pausen zwischen den einzelnen Songs einer Schallplatte markieren. Nicht das verknisterte Schweigen des Vinyls natürlich, sondern die vollkommene Stille, die die Tracks einer CD voneinander trennt und in denen man nicht einmal ein Rauschen hört. High Fidelity: Das ist das Pathos der Popkultur, um das herum Haruki Murakami seine Worte und Sätze gruppiert.

Titelbild

Haruki Murakami: Naokos Lächeln. Nur eine Liebesgeschichte.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2001.
430 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3770156099

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