Widerstreitende Willensmetaphysiker

Winfried Müller-Seyfarths Mainländer-Studie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Winfried Müller-Seyfarth, der Herausgeber der vierbändigen Schriften Philipp Mainländers (siehe literaturkritik.de Nr. 11/1999), hat nun unter dem Titel "Metaphysik der Entropie" eine Studie zur "transzendentalen Analyse und ihrer ethisch-metaphysischen Relevanz" des Radikalpessimisten vorgelegt. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich der Berliner Thanatologe als profunder Kenner Mainländers. Der Herausgeber und Interpret des weithin unbekannten Offenbacher Philosophen habe sich inzwischen als "Mainländer-Spezialist profiliert", bemerkt Franco Volpi im Vorwort zu Recht.

Müller-Seyfarths nicht immer flüssig zu lesende Studie setzt mit einer Untersuchung der "Kant-Modifikationen" Mainländers ein, deren zahlreiche Unzulänglichkeiten der Autor minutiös nachweist. Ebenso zeigt er Mainländers Missverständnisse der Transzendentalphilosophie auf und verhehlt auch nicht, wo seine 'Verbesserungen' hinter Kant zurückbleiben - und das ist oft genug der Fall.

Diesen quasi propädeutischen Ausführungen folgen die drei Hauptteile "Willensmetaphysik und Phänomenologie des Willens", die "Metaphysik der Entropie" und die "Ethik als Eudämonismus". Beschlossen wird die Studie durch einen Abriss der Rezeptionsgeschichte Mainländers mit Schwerpunktsetzungen auf Nietzsche, E. M. Cioran und Ulrich Horstmann.

Ein besonderes Augenmerk richtet Müller-Seyfarth auf Mainländers Verhältnis zu Julius Bahnsen. Beide stünden sie "auf den Schultern Schopenhauers". Als "Steigbügelhalter", führt der Autor das gelungene Bild fort, "dient Mainländer Kants transzendentale Analyse und Spinozas Gottesbegriff [...] und Bahnsen Hegels dialektische Methode und F. Th. Vischers metaphysische Begründung der Ästhetik". Anders als Schopenhauer, der von nur einem Willen sprach, der im principium individuationis als vielfältig erscheine, entwickelten seine beiden originellsten Schüler jeweils einen "Willenspluralismus". Hiermit sind die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon erschöpft. In ihren weiteren Ausprägungen könnten sich Bahnsens Theorie "der (permanenten) Existenz" und Mainländers Metaphysik der Entropie "kaum gravierender unterscheiden". Worüber beide eigentlich nicht sonderlich unglücklich gewesen sein dürften. Denn wären sich die beiden Willensmetaphysiker einig, könnte das schon als Indiz gegen beider Theorien der sich stets widerstreitenden Individualwillen genommen werden.

Mainländers Philosophie ist von Anfang an auf Erlösung angelegt. Sein vorweltliches göttliches Subjekt, das All-Eine, kann sich von seinem Leiden und Dasein nur über einen Umweg erlösen. Zuvor muss es sich in einem Akt der Transformation und Materialisation zur Welt zersplittern, damit die in ihr sich bekämpfenden Individualwillen irgendwann im Zustand der Erschöpfung endlich ihre Auf- und Erlösung finden - und mit ihnen und der gesamten Welt auch der ursprüngliche Gott. Hingegen ist gemäß Bahnsens "Realdialektik" der Kampf der "Willenshenaden" ausweglos und ewig, da er dem "unmittelbaren Wesen der Welt selbst" entspricht. Anders als die Individualwillen Mainländers widerstreiten Bahnsens Willenshenaden auch nicht bloß einander, sondern sind zudem in einer "dialektischen Selbstentzweiung, die nichts will als Nicht-Wollen", zerrissen. Deshalb scheint der von Müller-Seyfarth zur Bezeichnung von Bahnsens Philosophie geprägte Begriff "Ontologie der Differenz" nicht besonders glücklich gewählt, da er zu wenig umfasst. Differenz ließe immer noch die Möglichkeit einer 'friedlichen Koexistenz' oder gar eines komplementären Verhältnisses der Willenshenaden untereinander zu. Das ist Bahnsen zufolge jedoch nicht der Fall. "Alle Versuche", so referiert Müller-Seyfarth Bahnsens Auffassung, "eine Versöhnung der Weltgegensätze zu betreiben, haben den Charakter des Scheins." Kurz: "Es gibt", so fasst er zusammen, "keine Möglichkeit den Willenshenaden eine Erlösung im Sinne Mainländers [...] oder Schopenhauers [...] zuzubilligen". Bahnsen sei somit der "radikalste der Voluntaristen"; und auch der Radikalste der Pessimisten, möchte man hinzufügen. Wobei sich allerdings die Frage stellt, ob einer Philosophie, die - wie die Mainländers - eine Erlösung in Aussicht stellt, überhaupt als Pessimismus bezeichnet werden sollte.

Jedenfalls haben sich seit Schopenhauer, Bahnsen und Mainländer, wie Müller-Seyfarth abschließend fast allzu zurückhaltend formuliert, "die Gründe für den philosophischen Pessimismus eher noch verstärkt".

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Winfried H. Müller-Seyfarth: Metaphysik der Entropie. Philipp Mainländers transzendentale Analyse und ihre ethisch-metaphysische Relevanz. Mit einem Vorwort von Franco Volpi.
Van Bremen Verlag, Berlin 2000.
209 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3980553450

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