Ein Buch voller Hitsingles

Der Popjournalist Thomas Groß stellt mit "Berliner Barock" eine Sammlung seiner Artikel und Essays vor

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Thomas Groß Ende der 80er Jahre in Freiburg an seiner Doktorarbeit über den Popautor Rolf Dieter Brinkmann saß, ahnte er wohl selbst nicht, dass es ihn einmal in olympische Höhen des Feuilletons verschlagen würde. Schon damals schummelten sich Sätze großer Funkyness in den wissenschaftlichen Textapparat, und der angeschlagene Ton klingt nach einem ziemlich groovigen Mix aus Benjamin, Adorno, Theweleit und Postmoderne-Diskurs. Wer aber hätte voraussagen können, dass am Ende des 20. Jahrhunderts Pop als zeitkulturelles Passepartout einen solchen Aufschwung erleben würde, dass sich selbst die hehre "Zeit" einen Kritiker leistet, der große Fünfspalter über Popphänomene wie Surrogat oder Daniel Johnston verfasst? Über Leute, vor denen Oberstudienräte, die das Blatt abonnieren, ihre Schüler warnen müssten. Nun, nachdem Thomas Groß fast zehn Jahre bei der "taz" in Berlin an einem einzigartigen Stil experimentiert hat, ist er bei der alten Tante in Hamburg gelandet. Und einige Artikel der "taz"-Jahre sind mittlerweile, einem konzeptuellen Rahmen eingepasst, in einem Suhrkamp-Band erschienen: "Berliner Barock. Popsingles".

Singles als kurze, in sich abgeschlossene Kunstwerke gab es bereits Anfang der 80er Jahre in Textform. Was Max Goldt oder Thomas Meinecke mit ihren manierierten Sprachkapriolen bespielt haben, drehte sich eindeutig 45 Mal in der Minute um die reine Gegenwart. Bei Thomas Groß ist das Prinzip ein ähnliches, wenn sich seine Texte natürlich erst einmal als journalistische verstehen lassen.

"Noch 'n Berlin-Buch?" fragt uns Groß im Vorwort seines Samplers, als wollte er den Vorwurf der Hypebedienungstextmaschine schnell mal abdämpfen. Gerade er weiß: auch der größte Medien-Rummel geht irgendwann zu Ende und mit Berlin lässt sich dann kein bisschen Distinktion mehr gewinnen. Aber noch und ganz besonders für die 90er gilt: an Berlin kann man die kulturellen Temperaturschwankungen in der gesamten Republik wie am Fieberthermometer ablesen. Ob durch den prototypischen Kreuzberg-Aktivisten Rio Reiser der Mythos des Stadtteils und der Alternativszene überhaupt erst installiert wurde, in den 90ern dann Techno, MTV und die Regierung Einzug hielten und schließlich immer wieder alte Helden wie Neil Young und Bob Dylan in der Hauptstadt Station machten - unweigerlich spiegeln sich darin Entwicklungen, die nicht nur das Popgeschäft betreffen, sondern auch Hinweise auf die gesellschaftliche Großwetterlage geben. Thomas Groß kennt eben seinen Kracauer. Der meinte bekanntlich, an den Alltagsphänomenen könne man das Wesen einer Epoche am besten erkennen. So schaut sich der 1958 geborene Autor zum Beispiel auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben um und findet dort seine "wunderbare Servicewüste" als "Ferment einer utopischen Resistenz gegen die Zumutungen des modernen Lebens".

Wie bei jeder Popsingle, die eine ganze Welt erklärt und zugleich eine Geschichte erzählt, kommt es auch in "Berliner Barock" stark auf den Sound an. Bei Thomas Groß funktioniert der zum Beispiel in einem Text über Funny van Dannen so: "Die Welt ist, was der Fun ist, und das kann man drehen und wenden, zuckern und zimten, pfeffern und salzen, nie im Leben aber mehr abschaffen. Höchstens bedichten." Man erkennt die Liebe zum Detail, genau gearbeitete Übergänge; immer wieder entdeckt man übereinander gelegte Tonspuren, die sich aus der Philosophiegeschichte, den Archiven der populären Kultur, aus der Werbung oder Alltagssprache speisen. Nicht nur bei Funny van Dannen, auch bei Thomas Groß "wird das Welttheater im 3-Minuten-Format genießbar."

In den Texten schimmert das Grundprinzip aufgeklärter Popmusik: sie wissen um ihre Zitathaftigkeit und vielleicht auch um ihre Kurzlebigkeit (auch die kann Bestand haben). Sie sind dem Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigen, in ihrer Form sehr ähnlich. Damit wird die häufig ironisch-distanzierte Haltung, die bei Groß auch zu finden ist, wieder aufgehoben. Und bei aller analytischen Genauigkeit hört man immer die Liebe zum Dargestellten durch: Groß' Texte sind Pop.

Titelbild

Thomas Groß: Berliner Barock. Popsingles.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
197 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3518121766

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