Freundschaft am Ende

Über aktuelle Beiträge zur Diskretion und Uneingeschränktheit der Rede

Von Sabine EickenrodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Eickenrodt und Cettina RapisardaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cettina Rapisarda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer über Freundschaft reden wollte, als gehöre sie noch zum ungefährdeten ethischen Besitzstand und als sei sie nicht schon längst in die Krise geraten, kann schnell eines Besseren belehrt werden: Die Postbank verheißt uns auf dem Wege einer Freundschaftswerbung "die Chance auf ein doppeltes Dankeschön". Der Holsten Pilsener Culture Club skandiert ein "Prost auf die Freundschaft". Und wir können en passant erfahren, dass man nicht nur "gemeinsam mit einem guten Freund" im Berufsleben weiterkomme, sondern ebenso sicher mit einem Geldkoffer der Marke "Samsonite".

Solche Versprechungen merkantiler Freundlichkeit zeigen nebenbei aber auch, dass die Bewegungen der Freundschaft eine bemerkenswerte Renaissance erlebt haben. Gerade im Alltagsbewusstsein werden sie wieder hoch gehandelt: bei mobilen Handy-Besitzern, die sich empfindsame SMS schicken, haben sie ebenso Konjunktur wie bei weltläufigen Einsiedlern, die lieber chatten als reden wollen und sich ernsthaft fragen müssen, was ihnen 'ein Gespräch unter vier Augen eigentlich bringt'. Und auch aggressionserprobteste Talk-Show-Besucher, die auf die physische Präsenz anderer Streiter um keinen Preis verzichten mögen, orientieren sich letztlich an der unhintergehbaren Prämisse ihrer Grenzüberschreitung, die da lautet: Freundschaft gehört auch dann noch zur Ethik, wenn ihre Praxis sich auf keine Tugend mehr beziehen lässt. Selbst die Bereitschaft der gleichsam mit jedermann befreundeten Fernseh-Moderatoren, alles und alle verstehen zu wollen, kann sich des verbürgten Rechts auf die Konfession 'im Vertrauen' zumindest formal weiterhin gewiss sein, auch dann noch, wenn das Geständnis auf ein Millionenpublikum trifft. Gleichwohl sind die Verzerrungen des tradierten Freundschaftsideals - eines vertrauten Gesprächs unter Gleichen - keineswegs zu übersehen im ritualisierten Gerede der oft sinnentleerten Talk-Shows, die ja mit Erfolg die zentralen Prämissen einer aufgeklärten Öffentlichkeit weitertransportieren, ohne sie auch nur annähernd bedienen zu können: also die grundsätzliche Annahme, dass jeder Mensch nicht nur von Natur aus gesellig sei, sondern Geselligkeit geradezu als eine Pflicht aufgefasst werden müsse, "mit andern Menschen eine friedliche" und - so Zedlers Universallexikon von 1735 - eine "dienstfertige Gesellschaft zu erhalten, damit alle durch alle ihre Glückseligkeit erlangen mögen".

Nicht nur männliche Bürger, sondern auch Frauen, denen die Befähigung zur Freundschaft mit dem Hinweis auf ihre mangelnde Bildung, auf ihre Klatschsucht und ihren angeblichen Hang zur Teetisch-Geschwätzigkeit selbst noch von aufgeklärten Köpfen wie Thomas Abbt ("Ueber die Freundschaften der Frauenzimmer", ca. 1760) abgesprochen worden war, erhielten im Zuge dieser Öffnungspolitik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den geselligen 'Ritterschlag' und wurden zumindest idealiter mit Freundes-Attributen belehnt. Die ungeheure Erfolgsgeschichte dieses Strukturwandels der Öffentlichkeit lässt sich auch heute noch daran bemessen, dass ein gelungenes Gespräch sich in aller Regel weniger an seinem verhandelten Gegenstand als daran auszuweisen hat, ob Ausschlussprozesse der Freundschaft - wie Hass, Neid, Konkurrenz, üble Nachrede - relativ gefahrenlos gleich mitinszeniert werden können.

Das Phänomen einer uniformen Aufwertung der Diskurse der Freundschaft bei gleichzeitig zu verbuchender Verflüchtigung ihrer Inhalte wäre deshalb eigentlich eher ein klassischer Fall für die Soziologie: Dass in den Freundschaftstheorie-Entwürfen der letzten Jahre demgegenüber geradezu eine gegenläufige Tendenz zu beobachten ist, die als programmatische 'Rückführung' der Soziologie in die praktische Philosophie interpretiert werden könnte, muss offenbar als Reaktion auf einen ökonomischen und technologischen Umbau der Gesellschaften interpretiert werden, der wiederum seinerseits ohne das Ideal universeller (bzw. globalisierter) Kommunikation kaum planbar und erst recht nicht realisierbar wäre. Wie dilemmatisch die Bewertung einer marktgängig gewordenen sympathetischen Gefühlskultur sich gerade für jene erweisen kann, die das Vernunftmodell der Aufklärung nicht gänzlich verabschieden wollen, haben bereits vorsoziologische Studien wie etwa Christian Garves um 1797 entstandenes Werk "Über Gesellschaft und Einsamkeit" früh unter Beweis gestellt: Das Postulat einer gemeinsamen Wahrheitsfindung im geselligen Gespräch und Streit unter Freunden wird gerade dort von ihm emphatisch noch aufrechterhalten, wo er dessen Einlösbarkeit bereits argumentatorisch und empirisch ausdrücklich selbst widerlegt.

Einem solchen historisch 'gefestigten' Muster und grundlegenden Dilemma soziologisch ambitionierter Verfahrensweisen mag auch der Umstand zuzuschreiben sein, dass neuere, d. h. in den letzten zwei Jahren erschienene deutschsprachige Reflexionen über Freundschaft, etwa bei Silvia Bovenschen oder Alexander García Düttmann - sofern sie nicht wie Harald Lemkes philosophischer Essay oder Klaus-Dieter Eichlers Textsammlung lediglich enzyklopädisch bzw. exemplarisch verfahren wollen - maßgeblich durch französische Theorieangebote initiiert worden sind; insbesondere durch Jacques Derridas Versuch einer "Politik der Freundschaft". Durch Denkexperimente also, die sich gerade nicht am praxologischen Ideal, sondern an dessen paradoxaler Aussageweise orientieren, an jenem vielfach überlieferten pseudo-aristotelischen Satz: "O meine Freunde, es gibt keinen Freund".

Balance des Gesprächs: Soziologie der Diskretion

Wenn die neueren philosophischen Entwürfe vom Schweigen und vom Geheimnis in der Freundschaft sprechen, so intendieren sie allerdings etwas grundlegend anderes als das - etwa von Georg Simmel vertretene - Modell einer gesellschaftlich notwendigen Diskretion: Nicht ein aktives Ver-Schweigen unliebsamen, und deshalb die guten freundschaftlichen Beziehungen empfindlich störenden Wissens ist gemeint, sondern ein Schweigen, das jeder Freundschaft immer schon zugrunde liegt. Vorausgesetzt wird bei dieser Annahme stets, dass das Gespräch als ein "Ferment der Freundschaft" (Bovenschen) angesehen werden kann, und dass ihr das selbstreferentielle Moment fehle: Freunde sprechen über alles mögliche, nicht jedoch über ihre Freundschaft, es sei denn, diese sei bereits in die Krise geraten oder gar 'aufgekündigt'. Aber bereits dieser sprachliche Rückgriff auf ein Vertragsmodell unter Freunden, das (mit Kant) suggerieren wollte, Unwägbarkeiten, Indiskretionen und Verstellungen unter Freunden seien moralisch kontrollierbar und faktisch beherrschbar zu machen, würde einem solchen Denken gründlich zuwiderlaufen.

Gerade auf eine solche Vertragsfähigkeit der Freundschaft berief sich Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts, um das in der Literatur der Romantiker ans Licht beförderte Wahnpotential, das in allen freundschaftlichen Beziehungen enthalten ist, noch einmal unter Kontrolle zu bringen, indem er es einer 'vernünftigen' Soziologie der Geselligkeit unterwarf. In "fragmentarischen Ansätzen und Unausgesprochenheiten [ruhe] der ganze Verkehr der Menschen darauf, daß jeder vom andren etwas mehr weiß, als dieser ihm willentlich offenbart, und vielfach solches", so heißt es bei Simmel weiter, "dessen Erkanntwerden durch den andren, wenn jener es wüßte, ihm unerwünscht wäre." Und selbstverständlich weiß auch der Soziologe, dass dieses Quäntchen Mehr-Wissen im individuellen Sinn durchaus als Indiskretion verbucht werden kann, während es im sozialen und ökonomischen Bereich, als "Bedingung für die bestehende Enge und Lebhaftigkeit des Verkehrs", geradezu erforderlich sei.

Aber ist Freundschaft denn unter solchen Bedingungen überhaupt noch denkbar? Muss ein antikes Wertemodell der Gleichheit, Freiheit und Tugendhaftigkeit unserer Zeit nicht als antiquiert erscheinen? Bereits Simmel, der vielleicht zu den letzten Utopisten der Freundschaft gehört, hat daran seine Zweifel. Eine völlige Vertrautheit dürfte, so heißt es in der "Psychologie der Diskretion", "mit der wachsenden Differenzierung der Menschen immer schwieriger werden. Vielleicht hat der moderne Mensch zuviel zu verbergen, um eine Freundschaft im antiken Sinne zu haben". Simmel konnte 1906 ja noch nicht einmal ahnen, dass die schwierige Kunst der Hermeneutik, die er seinem Freundschaftsmodell zugrunde legt, am Ende seines Jahrhunderts nur von wenigen hochspezialisierten Fachleuten im Alltag noch ausgeübt würde: bestenfalls von Juristen oder von Therapeuten, deren Diskretion durch Gesetz und Bezahlung gesichert ist. Sein Denken war wider besseres Wissen weiterhin am romantischen Modell einer reinen, also freien Geselligkeit orientiert. Einer Geselligkeit demnach, in der "das Reden zum Selbstzweck" (Simmel) wird. Schleiermacher wollte 1799 in seinem "Versuch über eine Theorie des geselligen Betragens" die Richtlinien - nicht das Regelwerk - für eine gute Geselligkeit aufstellen: nämlich geradewegs den Ausgleich zwischen Selbstbeschränkung und freier Ausübung der je eigenen Art und des individuellen Ausdrucks zu finden.

Eine Balance des Gesprächs, dieses Jonglieren zwischen einem Sich-Offenbaren und einem Sich-Verschweigen nahm Simmel als Vorbild für sein Modell "differenzierter Freundschaften". In Hinsicht auf die Frage der Diskretion sah er in ihnen eine "eigenartige Synthese", denn Freundschaften, die lediglich auf Teil-Gemeinsamkeiten der Befreundeten beruhen, forderten, "daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde". Simmel relativiert damit nicht nur die Quantität, sondern auch die besondere Qualität der Freundschaft: Er stellt ihren Absolutheitsanspruch in Frage. Freundschaftliche Beziehungen müssen unter den Bedingungen moderner Kommunikation - so lautet die frühe soziologische Diagnose - auf das Postulat uneingeschränkter Rede verzichten.

Paradoxie der Freundschaft: Philosophie des Schweigens

Dagegen betonen die neueren philosophischen Denkmodelle jedoch gerade, dass im Namen der Freundschaft diese Forderung generell aufrechterhalten werden müsse, obgleich sich ein Übergang zum Status des Uneingeschränkten - seine Begründung also - schlechterdings nicht vorstellen lässt. Gerade in dieser scheinbaren Geschichtslosigkeit der Freundschaft liege ihre Paradoxie: denn jede Freundschaft erweise sich - so Alexander García Düttmann in seinem Essay "Freundschaft: Ein Versuch über die Befreiung" - "somit als ein Unangreifbares und doch in jedem Augenblick dem unwiderruflichen Bruch ausgesetztes Verhältnis". Da die Gründe und die Entstehung der Freundschaft dem Bewusstsein der Freunde notwendig entzogen bleiben, muss von ihrer permanenten Ungesichertheit ausgegangen werden. Sie wird unter Freunden nicht nur immer wieder auf die Probe gestellt, sondern kann auch plötzlich abbrechen, "ohne daß ihr Ende den Freunden einsichtiger wäre als ihr Anfang". Die Uneingeschränktheit der Rede bilde somit das Geheimnis der Freundschaft und sei doch zugleich von Anfang an bereits eingeschränkt, durch ein "von ihrem Willen unabhängige[s] Schweigen". Ähnlich wie Silvia Bovenschen, die (unter Berufung auf Deleuze/Guattari) ein 'aufgeklärtes' Verständnis von Freundschaft infrage stellt, das ihre vielfachen Gefühls-Mixturen im Namen einer "Hermeneutik der Entmischung" zu harmonisieren und sich ihrer idiosynkratischen Anteile zu entledigen wüsste, legt damit auch Düttmanns Analyse die Spur zu einer vernunftkritischen Argumentation - im Dienste der Vernunft.

Mit Berufung auf Nietzsches "Menschliches/Allzumenschliches" interpretiert Derrida (auf den sich Düttmanns philosophischer Essay ausdrücklich bezieht) die Wahrheit der Freundschaft gerade als ein Verrücktwerden dieser Wahrheit, die mit der Weisheit in der - für das Freundschaftsverständnis maßgeblichen - Geschichte der Philosophie als einer Geschichte der Vernunft nichts gemeinsam habe. Nietzsches Lesart des pseudo-aristotelischen Satzes, "Freunde, es gibt keinen Freund", stehe vielmehr dafür ein, dass der Weise, der diesen Ausspruch getan haben soll, "schweigend zu sich selbst vom Schweigen" spreche. Freundschaft, so Derrida, wahre nicht das Schweigen, ist also nicht zur Diskretion um der Freundschaft willen verurteilt, sondern werde vielmehr "durch das Schweigen bewahrt". Sobald sie mit sich selbst sprechen, also selbstreferentiell verfahren wolle, müsse sie sich notgedrungen in ihr Gegenteil verkehren, "um nun, da sie sich ausspricht, zu sagen, daß es keine Freunde gibt".

Derrida liest nicht nur ein bis heute kaum gebrochenes und immer noch mächtiges Ideal gegen den Strich, sondern erstattet ihm auch jene Erfahrungsgehalte zurück, die mit dem Postulat einer auf Tugendhaftigkeit, Gleichheit und Vernünftigkeit gegründeten Freundschaft unvereinbar schienen: Man muss nichts ver-schweigen, so lautet die Botschaft, wenn man sich der Freundschaft versichern will. Das nicht gebrochene Schweigen in der Freundschaft erst gewähre ihr vielmehr Schutz und verbürge eine höchst ambivalente Wahrheit: jene, "durch die sich die Freunde vor dem Irrtum und der Täuschung bewahren, welche die Freundschaft begründen, genauer: auf deren grundlosen Grund sie sich gründet, um nicht in ihren eigenen Abgrund hineingezogen zu werden". Die Grenzen dieses Schweigens jedoch stehen damit ständig zur Disposition und sind der Verfügungsgewalt der Befreundeten selbst immer schon entzogen.

Silvia Bovenschen analysiert in ihrem Essayband "Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie" Nathalie Sarrautes Stück "Für nichts und wieder nichts" als ein heikles Gespräch unter Freunden, die die Probe, auf die sie sich sprechend unvermittelt gestellt sehen, wohl niemals bestehen können. Ihr literarischer Streifzug legt es nahe, gerade auf die Banalisierungen freundschaftlicher Gefahrenzonen - des Verrats, der Kränkungen, der Eifersucht, der Leidenschaft, des Neids - zurückzugreifen, die, wie Bovenschen zeigt, für Sarraute durchaus nicht das Stigma des Pathologischen tragen. Die von Sarraute präsentierte lächerliche kleine Verstimmung, die nicht einmal artikulierbar ist und dennoch zum vehementen Bruch in der Freundschaft führt, fügt sich nahtlos in die Literaturgeschichte ein, in der Autoren wie z. B. Ludwig Tieck, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und vor allem Dostojewski das Misstrauen als 'festen' Bestandteil freundschaftlicher Beziehungen ausdrücklich gedacht haben. Wer Tiecks frühe Erzählung "Die Freunde" (1797) etwa mit seinem wenig später erschienenen Kunstmärchen "Der blonde Eckbert" vergleicht, wird diese um 1800 einsetzende Umwertung des empfindsamen Tugendideals deutlich registrieren können. Aber auch hier geht es nicht um bösartigen Verrat oder nachweisbare bewusste Vergehen gegen die Freundschaft, sondern um ein eminent modernes Phänomen: Um das generelle Misstrauen, um die Unfähigkeit, seinem Freund rückhaltloses Vertrauen zu schenken. Um die Unruhe, die einen Menschen heimsucht, der mehr im Gespräch von sich preisgegeben hat, als er vorhatte und als ihm lieb sein kann, die ihn schließlich sogar in Mordphantasien stürzt und das Tugendideal absoluter Freundschaft in eine radikale Unbegründbarkeit von Feindschaft überführt. Ein solches Freundschaftsmodell zitiert die Werte der Freundschaft wie Wahrhaftigkeit und Vertrauen nur noch, um sie gründlich zu zerstreuen und nicht individueller Identitätsbildung, sondern der Auflösung von Identität zuzutreiben.

Das Unheimliche in der Freundschaft

Kaum ein anderer Autor könnte Derridas Ausführungen zum Unheimlichen in der Freundschaft wohl eher stützen als Dostojewski, dessen Versuche, die Grenzen zwischen Sympathie und Antipathie beständig zu überschreiten, bereits in seiner frühen Erzählung "Der Doppelgänger" (1842) virulent sind. In ihr wird schließlich der Entwurf des Freundes als eines "zweiten Ichs" dem endgültigen Konkurs des Individuums zugeführt. Und doch beruft sich Derrida nicht auf Dostojewski, sondern auf Nietzsche, der "das Denken des Freund-Feindes" mit dem Wahnsinn verknüpfte, und wählt das Bild eines Gastes, der seinem Gastgeber immer schon zuvorkomme, ihn im Voraus heimsuche. Eine solche 'Zuvorkommenheit' jedoch müsse ein Denken von Grund auf erschüttern, das sich in Gegensätzen wie Wahrheit/Unwahrheit, Reden/Schweigen bewege. Es entledige sich vielmehr der grenzensetzenden Oppositionen und gehöre der "diskursiven Ordnung der philosophischen Spekulation sowenig an wie die losgelassenen Triebe der Freundschaft und der Feindschaft". Es werde "unheimlich" in jenem Sinn, dass es "dem Feind im Herzen des Freundes Unterkunft" gewähre - wie auch umgekehrt. Derrida legt Wert darauf, den metaphorischen Charakter des Sprachgebrauchs "Unterkunft" im Kontext des Unheimlichen ausdrücklich zu betonen und auf seinen Bildspender zurückzuführen. Das Wort "unheimlich" sei - obgleich es doch gerade vom Fremden spreche -, "der Vertrautheit des Heims und der vertrauten Wohnstatt keineswegs fremd"; es schaffe vielmehr "Raum für eine Form des Bei-sich-Aufnehmens [...], die ebenso sehr an die Heimsuchung wie an die Heimstatt gemahnt."

Selbst die mit Michel de Montaignes Freundschaftsessay kanonisch gewordene Trauer um den toten Freund wird von Derrida einer diskursiven Rede über diese Trauererfahrung gerade entzogen: Montaignes berühmte Begründung der Einzigartigkeit dieser Freundschaft - "weil er er war; weil ich ich war" - sei ja ständig an den Namen des Freundes, La Boéties, gebunden und somit testamentarisch verbürgt. Montaignes Essay könne also paradigmatisch insofern genannt werden, als er den Tod des Einzigartigen einem universalisierbaren Diskurs anvertraue und diesem doch auch immer schon zugleich als ein Singuläres, Unvergleichliches wieder entziehe. Gegenläufig gedacht: Gerade weil Montaignes essayistische Meditationen über die Erfahrung der Trauer um den verlorenen Freund die meisten Oppositionen in der Freundschaft (wie die zwischen privat und öffentlich) selbst infrage stellten, seien sie gezwungen, diese im Moment ihrer Infragestellung mit Berufung auf die kanonische Tradition zugleich schon auch wieder zu errichten. Die Invarianz dieses widersprüchlichen Modells jedoch müsse sich damit schließlich selbst zerbrechen und sich "ihrem eigenen Abgrund" öffnen. Ein solches Verfahren - und darauf kommt es in Derridas Denken an - kann nicht länger auf die mit der Freundschaft traditionell verbundene Symmetrie und Reziprozität angewiesen sein. Montaignes Reflexionen über die Freundschaft führten deshalb, gleichsam gegen den geplanten symmetrischen Grundriss der "Essais" von 1580, in deren Zentrum La Boéties Schrift "Von der freiwilligen Knechtschaft" stehen sollte, vielmehr "Heterologie, Asymmetrie und Unendlichkeit" ein.

Auf der Folie eines solchen mit der philosophischen Überlieferung brechenden Denkexperiments, das mit Bezug auf Montaigne die aristotelischen Motive der Freundschaft einer Art "unendlicher Transplantation" (Derrida) unterzieht, kann Agnes Hellers "Essay über die Schönheit der Freundschaft" (Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1998) als eine implizite Auseinandersetzung mit Derridas Versuch durchaus verstanden werden. Unter Berufung auf den ihr nahe stehenden und berühmten Montaigne-Leser - auf Shakespeare - nimmt sie indirekt die Reflexionen Derridas auf, um sie in 'eine andere Richtung' weiterzudenken. Shakespeares Drama "Hamlet" sei "unheimlich" in der Heideggerschen Bedeutung des Wortes: "Das Sein tritt [bei Shakespeare] nicht als alétheia, als Unverborgenheit auf. Vielmehr ist die Verborgenheit allgegenwärtig. Hamlet stirbt, und mit seinem Tod sind Erscheinung und Sein für immer voneinander geschieden". Für Heller ist Freundschaft hier als eine absolute Freundschaft unter Ungleichen zu verstehen, deren Wahrheit erst in der auf den Tod des Hamlet folgenden Erzählung seiner Geschichte durch den Freund Horatio zum Vorschein komme. Diese Argumentation will dem Wort seine Geltung, die der philosophischen Analyse eines Gesprächs unter Freunden bereits zweifelhaft geworden ist, im Medium der literarischen Erzählung noch einmal zurückerstatten. Heller macht deshalb deutlich, dass die Schönheit dieser Freundschaft im Akt des Erzählens selbst und also nicht etwa im Inhalt des Erzählten aufzufinden sei. Der Erzählung dieser verheerenden Geschichte - so Heller - könne insofern das Unmögliche gelingen: "Eine Heimat mitten unter 'Unheimlichen' im 'Unheimlichen' zu schaffen und dabei beide - die Heimat und das Unheimliche - fahren zu lassen". Anders als bei Derrida, der das 'Vielleicht' einer künftigen Freundschaft im Sinne einer stets künftig bleibenden Demokratie zu denken vorschlägt, auf die hin die Zukunft offen zu halten sei, wird bei Heller Freundschaft - wider alle Vernunft und historische Erfahrung - noch einmal dem Projekt der Aufklärung mit der Geste eines 'Trotzdem' zugedacht: als negative literarische Utopie, als wahrheitsschaffende und d. h. erinnernde Erzählung.

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Alexander García Düttmann: Freunde und Feinde. Das Absolute.
Turia + Kant Verlag, Wien 1999.
75 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3851322436

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Klaus-Dieter Eichler (Hg.): Philosophie der Freundschaft. Helmut Seidel zum 70. Geburtstag.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
255 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3379016691

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Harald Lemke: Freundschaft. Ein philosophischer Essay.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2000.
220 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3534142659

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Titelbild

Jacques Derrida: Politik der Freundschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Lorenzer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
492 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3518582844

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Titelbild

Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
265 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518411764

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