"insekten in bernstein"

Zu Jan Wagners lyrischen Probebohrungen

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Probebohrung geht in die Tiefe. Sie zeigt den Charakter des Durchdrungenen auf, ohne ihn zu beeinträchtigen. Sie beobachtet, aber hinterfragt die Dinge nicht. Sie ist ihre eigene Annahme. Und vor allem ist sie in der Entscheidung frei, weiter zu gehen.

"Probebohrung im Himmel" heißt der erste Gedichtband von Jan Wagner. Benannt nach einer Zeile, in der zwei Windräder sich wie beiläufig in einen göttlichen Himmel drehen. "gott hielt den atem an", schließt der Text, und es ist auch der Dichter, der hier staunend verharrt.

Jan Wagners Gedichte evozieren eine weihevolle Stimmung, die aber nicht mit Sakramentalität zu verwechseln ist. Sie zeigen eine grundsätzliche Liebe zu den Dingen. Dem Dichter Jan Wagner liegt das land still, und er nimmt es höchst sensitiv in seine Feder. Sanft tastend gelingen dieser Lyrik äußerst feingliedrige Annäherungen an die jeweilige Umgebung.

Schale um Schale wird abgezogen von dem, was unscheinbar wirkt und flüchtig. Jan Wagner ist einer, der sich in eine Stille hineinvertiefen kann, um darin ein Flüstern zu finden und es aufzurufen. Es gilt ihm, Unvermutetes zu finden im Beiläufigen. Um das Beglückende einer Randerscheinung festzuhalten.

Daraus entstehen charmante Gemälde. In den kretischen skizzen erscheint die Erfahrung eines südlichen Sommers nahezu aquarelliert. Das heißt nicht, dass hier das Schreiben verwässert wäre. Nur befinden sich Wagners Betrachtungen jenseits aller Übertreibung: "anderntags das licht, klar wie das glas/ einer lupe unter der du dich bewegst/ mit deinem kleinen nordischen geheimnis.// an schneebedeckten gipfeln adler, die/ mit ehrfurcht die große vertikale umkreisen./ zwischen der blühenden pracht am boden siehst du// ameisen nervöse ketten bilden:/ die sonne am himmel. der glimmende punkt im papier."

Allen Ginsberg sang von der Heiligkeit alles Seienden. Jan Wagner, im Ansatz natürlich anders, steht ebenfalls für das Großartige noch des Unbedeutendsten ein. Weil ihm nichts bedeutungslos ist. So bildet er Breviers an den Wunderbarkeiten des Seins. Der Autor, gänzlich unentfremdet, findet Champignons als Boten einer Sehnsucht in die Vergangenheit, sieht in Espressos "kleine enklaven/ von nacht" oder entdeckt im Fruchtfleisch von Melonen ein süßes Königreich.

Dabei sind es keine gediegenen Szenen, die hier entworfen werden. Jan Wagner besitzt genügend Esprit, seine in den Ding- und Landschaftsgedichten zeitweiligen Begleiter über die Schlichtheit einer Nature morte hinaus zu versetzen. Da sitzen "die grillen an ihren winzigen nähmaschinen", während woanders das lyrische Ich König und Königin in einem Bild von Velazquez beruhigt. In einer Forsterstraße "erwürgt[e] jemand/ seine posaune im schlaf", und im Norden "tragen die wolken das ganze jahr/ transparente mit der grauen aufschrift ,herbst'".

Der Ton dieser Gedichte ist verzaubernd und wirkt leicht verschwörerisch - gerade, wenn der Autor für Unbelebtes ein Bewusstsein organisiert. Feinsinniger Humor, manchmal bis hin zu spöttischen Blicken, ist Grundlage und Ausdruck der Probebohrungen. Die Harmonie liegt im Verständnis, im stillen Zwiegespräch zwischen dem Betrachteten und dem Autor, der dezent davon abrückt.

Die Stillleben und Erinnerungen sind frei von Anspannung und größeren dramatischen Zusammenhängen. Jan Wagner erfasst die Welt in Momenten geringer kinetischer Energie. Wie die "insekten in bernstein", die einmal als Bild benutzt werden, sind auch die Gedichte sympathische Drehkörper.

Ein General, der manisch alles vorrücken lassen will, ist in letzter Konsequenz nicht mehr als ein verschrobener alter Herr. Und im Umfeld von Harmonie und Versöhnung gelingt es auch der etwas düsterer angelegten Szene "in mitteleuropa" nicht wirklich, zu einer existentialistischen Äußerung zu werden. Selbst "des toten lenins reise nach tjumen" mutet an wie ein fröhlicher Ausflug in die Naturlandschaft Sibirien.

Wo sich einmal Skepsis zeigt, ist man versucht, sie als stilistisches Mittel zu werten. Andererseits, so die Skepsis des Rezensenten, wäre sie als Motiv in diesen Gedichten auch fehl am Platz. Die Texte sind wunderbar leicht, ohne belanglos zu sein. Vielleicht kann man sie als Dolce Vita in lyrischer Form begreifen. Bild- und Sprachmuster überzeugen dadurch, dass sie sich ihren Objekten unverkrampft und nicht verbal erzwungen nähern. Die Metaphorik unterstützt die Anschaulichkeit, und verhindert sie nicht. Jan Wagner arbeitet sehr präzise, kalkuliert auch die Unschärfen ganz genau. Und scheint ein Dichter zu sein, der schon früh ganz bei sich angekommen ist.

Titelbild

Jan Wagner: Probebohrung im Himmel. Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2001.
80 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3827000718

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