Das Wesen der Dichtung im 21. Jahrhundert

Wilperts "Sachwörterbuch der Literatur" in der 8. Auflage

Von Ulla BiernatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Biernat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom "Verständnis und der Freude an der Dichtung" spricht Gero von Wilpert hoffnungsfroh im Vorwort seines "Sachwörterbuchs der Literatur". Das Standardwerk ist jetzt in der 8., einer verbesserten und erweiterten Auflage erschienen und fördert Verständnis und Freude des wissbegierigen Literaturwissenschaftlers nach wie vor ungemein - jedoch nicht uneingeschränkt. Schon das kuriose, weil kaum überarbeitete Vorwort verdeutlicht, dass ein Lexikon, das zum ersten Mal 1955 erschienen ist, oft mehr bedarf als einer kumulativen Ergänzung "um rund 500 Artikel" und dem vorsichtigen und allgemeinen Fortschreiben von zentralen Begriffen wie "Literatur" und "Interpretation".

Laut Vorwort will Wilpert mit seinem literaturwissenschaftlichen, primär auf den deutschen Sprachraum bezogenen Lexikon "Aufschluss geben über Wesen und Formen der Dichtung, soweit sie als Sprachkunst ein Eigenleben besitzt". Die Stichwörter werden "in erster Linie auf ihre Wesenszüge und Eigengesetze sowie ihren dichterischen Aussagewert" befragt. Schon 1989, in der 7. Auflage des "Sachwörterbuchs", müssen solch antiquierte Begriffsgirlanden befremdlich geklungen haben, da man in den Literaturwissenschaften seit den 70ern allenthalben nur noch von "Texten" spricht, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, sozial und historisch variable Konstrukte zu sein; in der so genannten Postmoderne ist der "dichterische Aussagewert" dann in den Hintergrund gerückt; und die "Eigengesetze" ganzer Gattungen wurden in rekursiven Sprachstrategien gesucht, die aus "Sprachkunstwerken" metaliterarische Monster machten, vorläufig zu zähmen nur von einer gewitzten Sprachdompteuse.

Diese literaturtheoretischen Annahmen sind teilweise inzwischen selbst historisch, was Wilperts Vorwort doppelt anachronistisch, aber nicht weiter problematisch erscheinen lässt: Vorworte muss man nicht lesen. Leider setzt sich diese Ambivalenz in den Artikeln fort, was den Wilpert zum faszinierenden Untersuchungsgegenstand für Literaturhistoriker macht, seinen Gebrauchswert als Orientierungshilfe jedoch herabsetzt. Als erste Auskunftsquelle erfüllen Lexika eine wichtige Funktion, nicht zuletzt mit den Verweisen auf weiterführende Literatur, die auch in dieser 8. Auflage vorbildlich zusammengestellt ist. Quer zu diesen auf den neuesten Forschungsstand gebrachten Angaben liegen die veralteten literaturwissenschaftlichen Kategorien, mit denen zeitlich jüngere Fortführungen des Theorie-Designs dargestellt und damit indirekt auch bewertet werden.

Symptomatisch für dieses Dilemma ist der oberlehrerhafte Eintrag unter "Literaturtheorie", wohl einer der meistdiskutierten Begriffe der letzten Jahrzehnte. Dort wurde (im Vergleich zur 7. Auflage) der folgende Satz eingefügt: "Sie [die Literaturtheorie] sollte also z. B. Poetik, Rhetorik, Stilistik, Literaturpsychologie, Literatursoziologie u. ä. umfassen, erweist sich jedoch oft im Sinn e. theoret. Überbaus als abstraktes Philosophieren über Universalien, Grundlagen, Gesetze, Wirkungen, Seinsweise und Funktion der Lit. und Methoden der Literaturbetrachtung ohne Bezug auf prakt. Erscheinungen." Doch genau das ist Theorie ja auch, keine Praxis, keine "Betrachtung" irgendwelcher Seinsweisen. Ironischerweise sind dem Eintrag als Sekundärliteratur all die wundervollen literaturtheoretischen Lexika beigegeben, die in die Fülle der neueren (zugegeben, oft mehr oder minder) wissenschaftlichen Ansätze einführen.

Ähnlich disparat kommen auch andere überarbeitete Artikel daher, wie die zu "Dekonstruktion", "Postmoderne" und "Intertextualität". Im Gegensatz dazu überrascht bei kompletten Neueinträgen häufig die prägnante und konzise Darstellung, z. B. für "Poststrukturalismus", "Erzähltheorie", "Dialogizität", "Literari(zi)tät" und "Hypertext". Warum der Artikel "Metafiktion" in "Metafiction" umgetauft wird, ohne neu geschrieben zu werden, ist rätselhaft. Und man kann natürlich bemängeln, dass Stichworte wie "Rekursivität", "Kulturelles Gedächtnis" und "Postkoloniale Literatur" nicht auftauchen. Doch das ist wohl nur im letzten Fall ein wirklicher Mangel, besonders da der Autor hier gut an den Eintrag zur "Kolonialliteratur" hätte anknüpfen können. Mit inzwischen 5.500 Begriffen ist das "Sachwörterbuch" zweifellos zu einem verdienstvollen, wenn auch mit Vorsicht zu genießenden Standardwerk der Literaturwissenschaft angewachsen.

Titelbild

Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8. verbesserte und erweiterte Auflage.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001.
925 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3520231085

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