Fragmente der Realität

Preisgekrönte Comic-Novelle über die Besatzungszeit in Frankreich

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jean-Pierre Gibrat ist in Deutschland bisher vorwiegend mit Comics an die Öffentlichkeit getreten, die zwar optisch brillant gemacht, jedoch thematisch eher zwischen Softporno und Fantasiewelt angesiedelt waren. Mit "Der Aufschub" legt Gibrat seinen ersten eigenen Comic vor: hier ist er Szenarist und Zeichner in Personalunion. Die Ursprünge des Comics kannten diesen "Autor complet", moderne Produktionsbedingungen haben aber zu einer Spaltung geführt.

Gibrat siedelt seine Geschichte in der historischen Realität an: 1943 soll der junge Julien als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert werden. Die Flucht aus dem Transport-Zug gelingt ihm jedoch rechtzeitig; kurz darauf wird der Zug bombardiert. Als ein toter Dieb mit Juliens Papieren gefunden wird, erklärt man den Flüchtigen für tot. Julien versteckt sich in einem verlassenen Haus seines Heimatdorfes, verpflegt von seiner Tante, verliebt in die junge Cécile. Er wird Augenzeuge seiner eigenen Beerdigung und beobachtet die Eskalationen zwischen den Opportunisten und der Résistance.

Eigentlich eine recht bescheidene Geschichte. Wären da nicht der überraschende Schluss und - die Zeichnungen. Obwohl Gibrat mit der Methode der "couleur directe" arbeitet und einzelne wichtige Details verstärkt, atmen seine Figuren Wärme - anders als etwa im Falle Enki Bilals, der sich derselben Technik bedient. Der besondere Blick für Charaktere erlaubt Gibrat die Modulation individuell gestalteter Typen. Gelegentlich brechen zwar karikatureske Züge hervor; liebenswert bleiben die Figuren jedoch immer. Das Karikaturenhafte lässt sich mit Gibrats künstlerischer Herkunft erklären: die Betonung der Umrisslinien übernahm er von Goossens, entwickelte sie aber weiter und bettete sie in einen Stil ein, der die Organik seiner Charaktere hervorhebt. Das ist dem weichen Aquarellstrich zu verdanken und der warmen Kolorierung. Die nahezu statischen Bilder erinnern an Momentaufnahmen, Fragmente der Realität, und geben sich detailverliebt.

Auch mit den Dialogen, ein häufiges Problem bei "autor complet"-Konzepten, beweist Gibrat sein Können. Innen- und Außendialoge sind deutlich voneinander getrennt. Ebenso verhält es sich mit der Innen-/Außenperspektive. Julien beobachtet das Leben im Dorf von außen, ohne selbst wahrgenommen zu werden. Durch seinen vorgeblichen Tod ist er nicht mehr Mitglied der Gemeinschaft; er entwickelt eine kritische Distanz. Gibrat reflektiert dies auch in der Erzählhaltung, etwa, wenn er Julien durch ein Fernglas seine Geliebte betrachten lässt und der Leser ebenso wie der Protagonist zum Voyeur wird.

Auch siedelt Gibrat seine Geschichte nicht jenseits von Zeit und Raum an. Das Besondere sucht er im Geschichtlichen, er tritt nicht die Flucht in die Zukunft oder ins Imaginäre an.

Hervorragend auch die Editionsarbeit des Schott-Verlages: ein Essay und Interviewauszüge von Gibrat werden vorangestellt, in denen der Autor sich zum Problem des Comics äußert und die Entstehungsgeschichte der vorliegenden Bände reflektiert. Mit "Der Aufschub" hat sich Gibrat in die vorderste Reihe der französischen Comickünstler gespielt. Bleibt abzuwarten, ob er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann.

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Jean-Pierre Gibrat: Der Aufschub. 2 Bände.
Übersetzt aus dem Französischen von Eckart Schott.
Eckart Schott Verlag Salleck Publications, Wattenheim 1998.
Zus. 120, 12,70 EUR.

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