Mon Québec ma terre amère ma terre amande

Kaleidoskop der zeitgenössischen Literatur aus dem französischsprachigen Teil Kanadas

Von Martin KuesterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Kuester

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die französischsprachige Literatur Kanadas oder eigentlich die Literatur Québecs, der frankophonen Provinz Kanadas, scheint in letzter Zeit etwas mehr Widerhall in Deutschland zu finden. Dies zeigt sich in einer Reihe von im Jahr 2000 publizierten Bänden, zum Beispiel der Anthologie "Anders schreibendes Amerika: Literatur aus Québec" von Lothar Baier und Pierre Filion (vgl. literaturkritik.de 2000-06-05.html) oder der "Kleinen Geschichte des frankokanadischen Romans" von Klaus Dieter Ertler (Verlag Gunter Narr). Dass die Beachtung verdient ist, werden auch die Leser der hier zu besprechenden, von Hans-Jürgen Greif und François Ouellet besorgten und von Ingo Kolboom herausgegebenen Anthologie bestätigen.

Die Provinz Québec wurde lange Zeit als ein Hort des frankophonen Konservatismus und Katholizismus auf einem eher anglophon und protestantisch ausgerichteten nordamerikanischen Kontinent angesehen. Doch hat sie sich seit der Stillen Revolution der 50er und 60er Jahre, die zu großen politischen, kulturellen und sozialen Veränderungen führte, zu einer progressiven und weltlich orientierten Gesellschaft gewandelt, in der die Existenz der französischen Sprache aggressiv verteidigt wird und die Loslösung vom anglophonen Rest Kanadas für viele eine reelle politische Alternative bietet. Diese Abspaltung würde allerdings das von vielen mit Sympathie beobachtete politische Experiment einer zweisprachigen und multikulturellen Nation im Norden Amerikas wohl zum Scheitern bringen.

Was die künstlerische Produktivität des frankophonen Kanada im Bereich der während und nach der Stillen Revolution entstandenen Literatur betrifft, so stellt die Sammlung von Greif und Ouellet, die beide an der Université Laval in Québec unterrichten, ein sehr gutes Zeugnis aus. Allerdings muss der Leser dieser Anthologie - im Gegensatz zu dem der oben genannten Textsammlung von Baier und Filion - des Französischen mächtig sein, denn während auch hier die einleitenden und hinführenden Texte der Herausgeber in deutscher Sprache vorliegen, haben sie sich dazu entschieden, die literarischen Textausschnitte im französischen Original zu belassen. Dieses liegt auch nahe bei einer Anthologie, die in der Schriftenreihe eines akademischen Forschungszentrums, dem Centrum für interdisziplinäre franko-kanadische Forschungen Québec-Sachsen, erscheint und sich vor allem an ein spezialisiertes studentisches und universitäres Publikum wendet.

Nach einer deutschsprachigen Einleitung der beiden Québecer Literaturwissenschaftler stellt diese Anthologie über fünfzig Autoren und Autorinnen in Ausschnitten bzw. Kurztexten vor, die manchmal recht knapp geraten sind. Dabei ist die Sammlung in vier mehr oder weniger chronologisch angeordnete und von deutschsprachigen Einführungen eingeleitete Sektionen unterteilt, die sich verschiedenen literarischen Gattungen widmen. Der erste Teil konzentriert sich auf den Roman und kürzere Prosaformen, der zweite auf die Lyrik, der dritte auf den Essay, der hier als philosophisch-politisch-literaturwissenschaftlicher Diskurs verstanden wird, und der vierte auf das Drama Québecs, das mit international erfolgreichen Vertretern wie Robert Lepage zu den bei uns bekannteren Gattungen zählt. Den mit großer Kompetenz ausgewählten literarischen Texten geht jeweils eine knappe deutschsprachige Kontextualisierung voraus.

Die Herausgeber leiten den Band mit einer historischen Einordnung der frankophonen Gesellschaft Québecs ein, die mit der französischen Kolonisierung im 17. Jahrhundert beginnt und die Abtrennung vom französischen Mutterland durch die britische Eroberung im 18. Jahrhundert als Einschnitt von zentraler Bedeutung sieht. In gewisser Weise wird das Trauma dieser Eroberung erst durch die Stille Revolution beendet, und es wirkt in vielen zeitgenössischen Texten immer noch nach.

Die Themen, mit denen sich die literarischen Beiträge zu dieser Anthologie befassen, reichen von der Auseinandersetzung mit der Geschichte Québecs, die sich ja auch im Motto der Provinz Québec - "Je me souviens" - spiegelt, über das Streben der Provinz nach politischer Unabhängigkeit bis zur persönlichen Desillusionierung, Ambiguität und Identitätssuche (vor allem auch der Frauen und ethnischer Gruppen) in der sterilen modernen Industriegesellschaft, zu der sich Québec gewandelt hat. Die Québecer schwanken deshalb in ihrer Identifizierung mit ihrer Heimatprovinz: der Dichter Gaston Miron, der die Lyriksektion der Anthologie einleitet, apostrophiert die Provinz in ambiger Weise als "mon Québec ma terre amère ma terre amande", der Dramatiker Michel Tremblay sieht zumindest die traditionellen Québecer in ihrer Fixierung auf die Religion als der Gegenwart abgewandt: "un chapelet à la main pis les yeux dans le beurre." Die Schwankungen zwischen isolatorischem Bezug auf die Heimatprovinz und dem selbstbewussten Sich-Öffnen in Richtung auf eine internationale multikulturelle Welt werden auch in der Einstellung zum Québecer Idiom, dem "Joual", sichtbar, die in mehreren der Essays thematisiert wird. Vor allem auch durch Tremblays Theaterstücke hielt das Joual in die Literatur Einzug, wird nach zwischenzeitlicher Favorisierung inzwischen, zumindest in der Erzählliteratur, aber wieder weniger benutzt. Während die einen es als Ausdruck der Québecer Identität sahen und sehen, verstehen es andere als Zeichen kultureller Unreife.

Die hier vorgestellten Werke von Québecer Dichtern, Dramatikern und Erzählern zeigen, dass die Literatur Québecs ein vielseitiges und hochinteressantes Spielfeld literarischer Traditionen und Experimente darstellt, dem unsere Aufmerksamkeit in Zukunft noch viel stärker gelten sollte. Greif und Ouellett servieren hier den deutschen Lesern, bzw. denen unter ihnen - seien es Studierende, Schüler oder andere Literaturfreunde, die des Französischen mächtig sind - wichtige an- und aufregende und oft auch unterhaltsame Häppchen der frankokanadischen Literatur, die auf jeden Fall Lust auf mehr machen.

Titelbild

Hans Jürgen Greif / Francois Ouellet: Literatur in Québec. Eine Anthologie. 1960 - 2000.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2000.
328 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3935025025

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