Land der lebenden Toten

Denis Johnsons moderner Schauerroman "Schon tot"

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bescheidenheit ist die Tugend, mit der sich Denis Johnson schmückt. Er legt einen über 600 Seiten starken Wälzer vor und behauptet: "Dieses Buch ist nicht von mir". Nein, der Roman "Schon tot" sei dem Dichter Bill Knott zu verdanken, der mit seinem kurzen Prosagedicht "Poème Noir" den Plot erdichtet habe. Der Nicht-Autor Johnson, der aus verschiedenen (literarischen) Vorlagen zitiert - unter anderem aus einem ominösen "A Course in Miracles" des Esoterikvereins "Foundation for Inner Peace" -, sähe sein Licht gerne unter dem Scheffel, aber dort gehört es nicht hin, denn er präsentiert sich in seinem fünften Roman wieder als souveräner und origineller Erzähler des amerikanischen Alptraums.

In Bill Knotts schwarzem Gedicht geht es um einen Mann, der einen Lebensmüden vor dem Ertrinken rettet und ihm stattdessen den attraktiveren Tod auf dem elektrischen Stuhl anbietet: er solle einfach die verhasste Ehefrau seines "Retters" umbringen - die drohende Todesstrafe könne einen potentiellen Selbstmörder ja nicht wirklich schrecken. Doch anstatt die Ehefrau zu beseitigen, macht der Killer mit ihr gemeinsame Sache und bringt den Vater und den Bruder seines Auftraggebers um. Der ist jetzt der Hauptverdächtige und wird in den Fluten ertrinken. Diesen klassischen Film-Noir-Plot hat Denis Johnson ein wenig modifiziert, an die nordkalifornische Pazifikküste verlegt und mit dem im deutschen Titel leider unterschlagenen Zusatz "A California Gothic" versehen. Johnson bewegt sich damit irgendwo zwischen traditionellem, nebelschwadentriefendem Schauerroman und Hollywoods legendärer ,Schwarzer Serie'. Ein mysteriöses Kriminalstück mit Einsprengseln aus Esoterik, Mystik und Philosophie, dessen surreale Stimmung immer wieder durchbrochen wird von der Realität des zeitgeschichtlichen Hintergrundes, der irakischen Besetzung Kuwaits und der Vorbereitung des Golfkrieges von 1990.

Während also Präsident Bush seinen Ölkrieg plant, entwirft die Hauptfigur Nelson Fairchild Junior seinen eigenen, ganz privaten Krieg, der ihn aus finanziellen Nöten befreien soll. Nelson hat bei einem mittelmäßigen Drogendeal die Nerven verloren und das Koks vor Angst im Flughafenklo versenkt. Jetzt sitzen ihm zwei ungemütliche Killer im Nacken, die ihn an seine Verbindlichkeiten erinnern sollen und sich nebenbei die Zeit mit schwülstiger Folk-Poesie vertreiben. Nelson hat zwar einen steinreichen Vater, der zudem kurz vor dem Exitus steht, doch dessen tyrannischem Gemüt hat es Junior zu verdanken, dass sein Erbteil an das Fortbestehen seiner mehr als labilen Ehe geknüpft ist. Eine einfache Scheidung von Frau Winona brächte ihm also gar nichts ein, deshalb soll nun die Lebensversicherung der Angetrauten herhalten. Und so erscheint es zunächst als überaus glückliche Fügung, dass Nelson einen Lebensmüden als "Mordwerkzeug" verdingen kann, da dieser nichts zu verlieren hat, nicht einmal sein Leben. Der Plan scheint perfekt, doch der Blick auf Bill Knotts "Poème Noir" lässt erahnen, wie fatal die Story weitergeht.

Denis Johnson, der in Deutschland vor allem durch seinen hervorragenden Kurzgeschichtenband "Jesus Sohn" bekannt geworden ist und zu den wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren gezählt wird, schildert das alles wie in Technicolor und Cinemascope, wortgewaltig, metaphernreich, farbig, mit manchmal etwas zu schweifendem Blick und mit allerlei philosophischem und esoterischem Beiwerk. Vor allem Nietzsche zieht sich als symbolträchtiger Name durch den ganzen Roman, wird ständig zitiert und recht eigenwillig interpretiert: "In der Bosheit begegnen sich der Übermüthige und der Schwächliche. Aber sie mißverstehen einander." Dieser Aphorismus, sinnfällig aus dem Kapitel "Vom Krieg und Kriegsvolke" des "Zarathustra" gewählt, benennt das Band, das zwischen dem Übermütigen Nelson Fairchild und dem Schwächling Carl Van Ness geknüpft ist und zum verhängnisvollen Missverständnis führt. Doch Denis Johnson vermeidet es glücklicherweise, die bizarre Atmosphäre des Romans mit der Ernsthaftigkeit eines philosophischen Didaktikers zu grundieren. So werden die philosophierenden Gestalten mitsamt ihren eigenartigen Lebensweisheiten von ihrem Schöpfer nicht ohne Selbstironie präsentiert: ",Jenseits von Gut und Böse.' - ,Genau. Wie viele Wörter sind das? Fünf. Er hat fünf Wörter Nietzsche gelesen, ist losgerannt und hat sich ein Leben daraus gezimmert.'... ,Nietzsche? Ich scheiß auf Nietzsche. Haben Sie je versucht, Nietzsche zu buchstabieren? Viel Glück.'"

Die Zutaten sind außerordentlich heterogen: Versatzstücke des traditionellen Schauerromans wie Untote, Dämonen, Hexen, gespenstische Nebelschwaden und monströse Unwetter umrahmen die Geschichte, die von fundamentalistischen Gottsuchern, geläuterten Ex-Junkies, New-Age-Freaks, Verfolgungswahnsinnigen, Althippies, Lesbenhexen, Hängengebliebenen und Abgehobenen bevölkert wird. Den abgedrehten Typen ist ihre Sehnsucht gemein, ihr Streben nach Freiheit, die Glückssuche in alternativen Lebensformen, und sie vereint ihr kollektives Scheitern. Wie lebende Zombies fristen sie ihr kümmerliches Dasein auf heruntergekommenen Campingplätzen, verdienen sich ihr Geld als Schrotthändler oder suchen Verwirklichung im Entwerfen von monumentalen Kettensägenskulpturen. Auch der alkoholkranke Antiheld Nelson Fairchild ist trotz seiner verzweifelten Bemühungen schon gescheitert, er ist eben "schon tot" und geistert als Scheintoter durch die plastisch illuminierte kalifornische Redwoodkulisse.

Johnson pendelt mühelos - und verdammt gekonnt - zwischen verschiedenen Erzählperspektiven, Briefpassagen, Zeitebenen und Handlungssträngen, lässt seine Leser aber nie auf ihrem buchstäblich halluzinatorischen Trip allein. Anders als im traditionellen Schauerroman entspringt der Horror in "Schon tot" dabei nicht dem permanent präsenten Jenseitigen oder Übersinnlichen, sondern der diesseitigen Welt. Es sind auch weniger die stellenweise drastischen Gewaltdarstellungen, mit denen der Autor den Schrecken erzeugt, sondern eher die beiläufig eingeflochtenen Details: sei es das erbärmliche Nomadentum einer verlassenen Ehefrau, die mit ihrem kleinen Sohn in einem schäbigen Auto hausen muss und von der Hand in den Mund lebt, sei es das peinigende Kriegstrauma eines Beirut-Veteranen, seien es die CNN-Bilder der Truppenbewegungen am Persischen Golf. Die Faszination des Buchs entsteht nicht zuletzt in diesem Gegenüber von surrealer Phantastik und zeitkritisch-authentischer Schonungslosigkeit. Ein großer Roman, der zwar hin und wieder vom Sprachpathos der zelebrierten Naturmystik etwas aufgebläht wird, aber seinen kleinen Schwächen keineswegs unterliegt.

Titelbild

Denis Johnson: Schon tot.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Fritz Mergel.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
560 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3828601219

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