Gramm(at)ophonie oder: Wie kann man das Subkutane hörbar machen?

Thomas Manns "Zauberberg" als Hörspiel

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Juli 1913 bereitete Thomas Mann, wie wir aus brieflichen Zeugnissen wissen, "eine Novelle vor, die eine Art von humoristischem Gegenstück zum 'Tod in Venedig' zu werden" versprach. Ein persönliches Erlebnis, der Besuch seiner Frau Katia in einem Waldsanatorium in Davos im Mai 1912, sollte erzählerisch gestaltet werden. Der Schreibplan sah zunächst recht bescheiden aus: "Ein schlichter Held, ein kurioser Konflikt", und all das werde "bequem, lustig und auf mäßigem Raum zu machen sein". Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Arbeit daran zunächst gelegentlich zugunsten "historisch-politischer Improvisationen" und schließlich für längere Zeit für die "Betrachtungen eines Unpolitischen" unterbrochen. Im Frühjahr 1919 nahm Thomas Mann den Erzählstoff wieder auf, der sich nun zum Roman mit dem berauschend wirkenden Titel "Der Zauberberg" auswuchs, aber erst im September 1924 konnte er ihn schließlich beenden. Seine Produktionszeit umfasst also das ganze Spektrum der Kaiserzeit und der frühen Weimarer Republik vom Ästhetizismus über die nationalkonservative Parteinahme Thomas Manns bis zu dessen problematischem Republikanismus. Gegen seine Anlage ist "Der Zauberberg" damit aber vor allem zum Roman einer Epoche geworden, die im "Donnerschlag" des Ersten Weltkriegs auseinander brach. Die insgesamt knapp zwölf Jahre vom ersten Plan bis zum "Finis operis" veränderten aber nicht nur die europäische Kultur, sondern auch ihren Diagnostiker Thomas Mann selbst.

Die 'Handlung' ist rasch erzählt: Der Hamburger Patriziersohn Hans Castorp will vor Beginn seines Ingenieurstudiums seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen, der im Schweizer Gebirgssanatorium Berghof schon seit Monaten zur Kur weilt, für drei Wochen besuchen. Die sensiblen Menschen und die Stimmung üben eine derart verlockende Wirkung auf Castorp aus, dass aus den geplanten drei Wochen am Ende sieben Jahre werden. Castorp lebt in der hermetischen Gemeinschaft derer "da oben", verzaubert, ohne Uhr und Kalender, bis der abrupte Ausbruch des Krieges 1914 ihn dem Zauberberg entreißt und wieder in die Welt versetzt. Als Soldat, verloren im Gewimmel einer nicht näher spezifizierten Schlacht, gerät er schließlich dem Leser aus den Augen.

"Der Zauberberg" versammelt eine ganze Schar moribunder Figuren - Intellektuelle, Glaubenseiferer, Aufklärer, Hedonisten, Hypochonder, "Seelenzergliederer" und nicht zuletzt eine russische Schönheit. Die Kranken entfliehen der Innerlichkeit ihres gebrechlichen Körpers in banale, groteske, mitunter aber auch großartige Sprach- und Außenwelten, die der Erzähler stets ironisch kommentierend begleitet. Fünf Kapitel enthalten die gesamte erste Hälfte des Textes, beschreiben aber lediglich ein Jahr, während der gleich lange Rest eine Zeitspanne von über sechs Jahren umfasst und auf nur zwei Kapitel verteilt ist. Scheinbar endlose Dialoge, besonders zwischen dem Pädagogen und Humanisten Lodovico Settembrini auf der einen und Leo Naphta, einer "sprengstoffhaltigen Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei", auf der anderen Seite, retardieren das Geschehen. Letztlich geht es in den Rededuellen der beiden immer wieder um die politische Grundfrage des 20. Jahrhunderts, um den auch in früheren Texten Manns schwelenden Konflikt zwischen Individuum (mit Rekurs auf das von Schopenhauer formulierte "principium individuationis") und Kollektiv, zwischen Humanismus und Totalitarismus, zwischen Künstler und Bürger. Als es zu keinem Ausgleich dieser grundlegend antithetischen Struktur kommen kann, fordert Naphta seinen Gegner zum Duell und schießt sich nach dessen Schussverweigerung selbst in den Kopf. Gleichzeitig werden zentral anmutende Ereignisse, etwa die Liebesnacht von Hans Castorp und Clawdia Chauchat, nur beiläufig erwähnt und auch das letzte große Erlebnis Castorps mit dem holländischen Kaffeepflanzer Mynheer Pieter Peeperkorn steht unter der Geste der Sprachlosigkeit. Dabei lauert unter dieser alles beherrschenden Maske ganz unverhohlen die latente Angst vor Impotenz, die wie ein Subtext den gesamten Roman durchzieht. Nachdem Peeperkorn in Hans Castorp den Nebenbuhler um die Gunst Clawdia Chauchats erkannt hat, nimmt er sich mit einer ausgeklügelten Giftspritze ebenfalls das Leben.

Die äußere Handlung also ist recht schmal, um sie herum hat Thomas Mann jedoch ein labyrinthisches Gewebe aus Intertexten geformt, dessen Aufschlüsselung die Literaturwissenschaft bis in die Gegenwart intensiv beschäftigt und mitunter zu einem feucht-fröhlichen Deutungsfest geführt hat: Hinter faszinierenden Persönlichkeiten, brillanten Dialogen, mitunter gewichtigem Schweigen, satirischen Verven und tragischen Verstrickungen lauern Verweise auf Goethe und die Bibel, auf Märchentexte und Nietzsche, Schopenhauer und die Sexualtheorie Freuds, um nur einige wenige dieser Spuren zu nennen. Thomas Mann hat diesem Unterfangen mit begleitenden Kommentaren durchaus Vorschub geleistet: Er sah den "Zauberberg" einerseits als "hermetisch", "symphonisch" und "kontrapunktisch", andererseits aber nannte er ihn ein "Untier" von einem Roman, einen "Schwamm", locker gewoben und episodisch. Der "Geist des Ganzen ist", wie Mann in einem Brief an Paul Amann vom 3. August 1915 hervorhebt, "humoristisch-nihilistisch, und eher schwankt die Tendenz nach der Seite der Sympathie mit dem Tode." Diesen Erklärungen geht übrigens die Aufforderung des Autors voraus, seinen Roman in jedem Fall zweimal zu lesen, um so "den musikalisch-ideellen Beziehungskomplex, den er bildet, erst richtig durchschauen und genießen" zu können.

Sichtbar wird eine "Schichtentechnik", wie Michael Maar es einmal treffend genannt hat, die in die Tiefen des Textes führt und die versteckten Selbstreflexionen des Autors zu dekodieren hilft: "Die genaue Betrachtung der Oberfläche ist das erste. Darunter liegt das Mitbedachte, das sich in Spuren an der Oberfläche zeigen muss. Was mitgedacht und mitgewusst wird, spricht dann beim Lesen mit, man liest anders, wenn man es bedenkt und von den verborgenen Schichten seine stillen Kenntnisse hat. Das Lyrische ist das eine, aber es schadet nicht, auch subkutan Bescheid zu wissen." Dem "Zauberberg" wurde mit Hilfe einer Vielzahl methodologischer Ansätze auf den (Text-)Leib gerückt: Er wurde formanalytisch interpretiert und auf Erzählhaltung, Leitmotivstrukturen, Gattungszugehörigkeit untersucht; er wurde zum "Bildungsroman" ernannt, als Epochenroman und als alexandrinisch-artistisches Spiel mit Mythen und anderen literarischen Vorbildern ausgelegt. Egal, ob die philosophisch-strukturale Geschlossenheit des Romans oder aber dessen Spannung zur außerliterarischen Umwelt betont wurde, eines wird deutlich: "Der Zauberberg" passt streng genommen in keines der herangezogenen Schemata. Er ist vielmehr ein merkwürdiger, weil mehrdeutiger Ort der Verzauberung durch ebenso natürliche wie auch künstliche Worte, Stimmen, Bilder und Musik. "Der Zauberberg" neigt aber beileibe nicht nur zur "Fülle des Wohllauts", wie Thomas Mann dasjenige Kapitel überschreibt, in dem das Grammophon eingeführt wird, sondern auch zu hochgeistiger Geschwätzigkeit und entfesselter Beschreibungssucht, deren Lesbarkeit bereits mehrfach - und nicht nur von den Fachleuten - grimmig hinterfragt wurde.

Nun wagen es die Hörspielautorin Valerie Stiegele und der Regisseur Ulrich Lampen gar, die Hörbarkeit dieses Jahrhundert-Romans zu erproben. Als "eine Hörspiel- und Hörbuch-Kooperation" präsentieren der Bayerische Rundfunk und der Hörverlag die 10 Stunden lange Produktion des "Zauberberg", deren Vorbereitung mehr als anderthalb Jahre und deren Aufnahmen und Mischungen in den Studios insgesamt mehr als fünf Monate in Anspruch nahmen. Das mit 35 Rollen üppig besetzte Hörspiel findet zweifelsohne in der auratischen Qualität der Stimme Udo Samels, der Thomas Manns Erzähler rezitiert, im Mynheer Peeperkorn des Traugott Buhre, im Hofrat Behrens des Friedhelm Ptok, im Lodovico Settembrini des Felix von Manteuffel, vor allem aber in der kongenialen Musik des Komponisten Michael Riessler und in den Geräuschen und Akustiken (etwa die Realisierung der Tuberkulose und die nahezu authentische Wiedergabe des Grammophons) seine gewiss nicht wenigen Höhepunkte. Zu dem überragenden Gesamteindruck tragen auch die stets präsente, aber nie aufdringliche Dramaturgie und der Mut Valerie Stiegeles bei, "Hand anzulegen an etwas, was fertiger ist als fertig". In dem beigefügten illustrierten Booklet beschreibt sie ihren Versuch recht anschaulich: "[E]s ging ja nicht darum, dieses Stück Literatur als Ganzes philologisch zu durchleuchten, zu analysieren oder zu interpretieren [...], sondern das Buch musste seine Leiblichkeit ändern, in ein anderes Medium überführt werden, die gedruckte Sprache musste in eine gesprochene verwandelt werden. Und dies ohne gravierende Einbußen für den Geist der Erzählung, ihren musikalischen Rhythmus und möglichst auch ohne Schaden für die Hörer." Die notwendige Streichung derjenigen Passagen, in denen philosophiert und doziert und auch über deren "Wie" noch nachgedacht wird, zugunsten von Elementen der äußeren Handlung, ist selbstverständlich. Stiegeles Realisierung ist jedoch besonders deshalb zu rühmen, weil sie es schafft, das intertextuelle Geflecht an thematischen Strängen so zu beschneiden, dass die Struktur des Originals nicht zerstört wird. Hörbar wird eine Lust am Text, der nach den Lesern nun auch die Zuhörer in seinen Bann schlägt. Oder, um es mit Thomas Mann zu sagen: "Man lauschte mit offenen Mündern lächelnd".

Titelbild

Thomas Mann: Der Zauberberg. Hörspielbearb.: Valerie Stiegele. Regie: Ulrich Lampen; Sprecher: Udo Samel u. a.
Der Hörverlag, München 2000.
8 MC, ca. 516 Min., 50,60 EUR.
ISBN-10: 3899402588

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