Theorie und Praxis des Lesens

Alexander Honold rekonstruiert mit dem Leser Walter Benjamin - Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beschäftigung mit Walter Benjamin ist ein dankbares Thema. Die fast hermetische Dichte seiner Überlegungen, die oft als "esoterisch" missverstandenen philosophischen Implikationen - all das bietet genug Stoff für immer neue Arbeiten. In den letzten Jahren führte die weidliche Nutzung dieser Gelegenheiten zu einer wahren Benjamin-Mode.

Mittlerweile ist die Flut von Publikationen wieder abgeebbt. Die Menge verzweifelter Versuche, Benjamins methodische Erwägungen notfalls mit Gewalt auf jeden noch so fern liegenden Gegenstand anzuwenden, wird langsam überschaubarer.

Auf der Bühne dieser Trauerspielkulisse präsentiert der 1962 in Chile geborene Literaturwissenschaftler Alexander Honold sein Buch über den Leser Walter Benjamin dem Publikum. Und, um es gleich vorweg zu sagen: Die Darbietung begeistert. Auf einer vergnüglichen tour de force durch die Literaturgeschichte enthüllt Honold mit Benjamin die verschütteten Facetten von sieben Autoren, denen Benjamin Essays und Artikel widmete - Hölderlin, Goethe, Hebel, Kraus und Jünger, Kafka und Brecht.

Eine "zweifache Lektüre" wolle er dabei leisten, schreibt Honold in der Einleitung. Zweifach bedeutet: Sich ausgewählten literarischen Werken von der eigenen Warte aus zu nähern und sie dann, von Benjamins Theorie und seinen Leseerfahrungen geleitet, mit ihm wiederzulesen. Die Rekonstruktion dieser "Theorie des Lesens" nach Walter Benjamin nimmt den ersten der insgesamt sechs Essays ein. "Kritisches Lesen" und "Magisches Lesen" stellen die Pole dar, zwischen denen Benjamin die "Kritik als Grundwissenschaft der Literaturgeschichte" etablieren will. Das nur sozial- und geschichtskritische Lesen, so Benjamin, kranke nämlich daran, "dass ihr die 'magische', nichturteilende Seite fehlt, daß sie immer (oder fast immer) hinter das Geheimnis kommt." Deshalb bedürfe es des "magischen Lesens".

Leider rettet sich auch Honold vor einer plausiblen philosophischen Deutung dieser "Magie" mit dem beliebten Hinweis auf Benjamins "irritierenden Messianismus". Benjamin meint den Respekt vor dem "Geheimnis" jedoch keineswegs esoterisch. Vielmehr geht es darum, die "geschrumpfte", monadische Struktur der durch die Zeit gemordeten Werke mit dem eschatologischen Blick des "Engels der Geschichte" mittelbar zu machen. Benjamins Strategie ist die Verortung des Werks in einer Konstellation zu anderen Epochen und Werken. Sein Ziel ist die "Mortifikation der Werke" - wenn ungeahnte Bezüge und Erkenntnisse sich wie ein "Sternbild" entschleiern - sein Credo die Formel Hofmannthals: "Was nie geschrieben wurde, lesen."

Honold folgt dieser Strategie, wenn auch zunächst etwas zögerlich. Der Selbstmord des Dichterfreunds Fritz Heinle im August 1914 wird zum Schlüssel für die Interpretation von Benjamins Beschäftigung mit Hölderlin. Hier offenbart sich Honold als fähiger, obgleich etwas trockener Philologe, wenn er Benjamins Kenntnis der verschiedenen Fassungen des Hölderlin-Fragments "Dichtermuth" kompetent nachvollzieht. Im Hinblick auf den "Tod des Dichters" erscheint der "Dichtermuth" in Benjamins Lesart als Reflexion auf die Stellung des Literaten zur Welt, der sich selbst aufs Spiel setzen muss. "Der Tod des Orpheus", resümiert Honold trocken, "war ein Arbeitsunfall."

Auch im zweiten Essay folgt Honold Benjamins systematischen Vorgaben und ergänzt sie, wo nötig. Das Thema gibt Benjamins zweite größere Schrift über Goethes "Wahlverwandtschaften" vor. Seine Interpretation quasi-chemischer Affinitäten, der "Wahlverwandtschaften" zwischen Stoffen und Romanprotagonisten, ist eine Betrachtung naturgesetzlicher Kräfte im sozialen Raum. Was Goethe wie das Walten der Natur erschien, enthüllt sich Benjamin vom Tod der Figuren und des Werkes her als eine "freie Wahl", deren Bewusstsein es zu restaurieren gilt.

Den Blick auf eine Epoche durch die Augen des toten Dichters entdeckt Benjamin auch in Peter Hebels "Schatzkästlein". Honold unterstützt ihn mit gescheiten Reflexionen zur Erzählerposition und dessen Sprache. Das "Schatzkästlein" wird zum "Sinnbild der gesammelten, aufgeladenen Zeit". Mit dem immer gültigen Geschichtenbeginn "Es war bekanntlich einmal..." schlägt die Epik des "Vergegenwärtigers" Hebel noch dem Tod ein Schnippchen, indem sie sich den "Lauf der Dinge" über deren Vollendung hinaus zu eigen macht.

Dem Tod begegnet der Leser auf Benjamins Spuren im vorletzten Essay wieder, wenngleich unter anderen Gesichtspunkten. Wenn Honold mit Benjamin Karl Kraus gegen Ernst Jünger liest, nähert sich der Leser mit ihm dem Grauen des Ersten Weltkrieges. Das "somnambule Fratzenkabinett" des Polemikers Kraus bietet die Folie, vor der Jüngers verharmlosender Heroismus der beißenden Kritik des angehenden Feuilletonisten Benjamin zum Opfer fällt. Honold liest nun zum ersten Mal vollständig mit und durch Benjamin. Der Misanthrop Kraus leiht nicht nur Benjamin seine stilistische Feder, wenn das unfassbar perverse "Bumsti!" des Erzherzogs Friedrich in den "Letzten Tagen der Menschheit" zur kommentierenden Begleitmusik einer ganzen Epoche erklärt wird. "Es gibt, jenseits der Geschichte, welche die Historiker schreiben, Kontinuitäten und Wiederholungen der diabolischen Art", sagt Honold mit Blick auf Jünger, "solche, bei denen selbst der Teufel ,pfui Teufel!' schreit." Das schreibt ein "notwendig radikaler" Kritiker, wie Benjamin ihn fordert.

Es ist ein literaturhistorisches Husarenstück, das Honold hier zustande bringt. Die Vermittlung einer Epoche mit Benjamins Darstellung durch das literarische Werk vermittelt sich dem Leser nun abermals durch Honolds Interpretation beider Instanzen. Selbst formal orientiert sich Honold an Benjamin. Benjamins Merkmale des Traktates finden in Honolds Essays ihre Entsprechung: "Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück." Das ist keineswegs langweilig, wie es zunächst scheinen mag. Die in der Tat bisweilen "umständlichen" Konstellationen, in die Honold neben deutschen Autoren auch Proust und Defoes "Robinson Crusoe" setzt, sind ungeheuer unterhaltsam und lehrreich.

Der sprachliche Furor Kraus'scher Provenienz weicht im letzten Essay einer besonnenen, mitunter pessimistischen Reflexion auf Franz Kafka. Einem beängstigenden Kinderbild des Prager Autors stellt Honold eine Fotografie Brechts aus den Zwanziger Jahren gegenüber und expliziert daran die fatale Wirkung der "kalten Persona" (Lethen) auf das Subjekt, wie sie sich im Lichtbild widerspiegelt. Kafkas Affe aus dem "Bericht für eine Akademie" wird genauso zum Beispiel der Entfremdung in der modernen Lebenswelt, wie Brechts eindringliche Warnung "Verwisch die Spuren!". Es ist Benjamin, der hier mit Kafkas Worten dem vom Leben aus der Bahn geworfenen Menschen "eine Seekrankheit auf festem Boden" bescheinigt. Honold verknüpft lediglich die Splitter verschiedener Aufsätze und stellt die Konstellation her. Gerade hier vermisst man das politische Moment, das Benjamins Philosophie so wesenhaft ist. Honold überlässt es jedoch dem Mit-Lesenden, seinerseits den Reflex aufs Politische herzustellen. Den leidenschaftlichen Agitationen Benjamins schenkt er wenig Aufmerksamkeit.

Der Streifzug durch den Lesartendschungel fordert im besten Sinne ein Mitdenken. Spätestens mit Kraus' "Bumsti!" stellt sich "wie ein Chock" die Erkenntnis ein, auf die Benjamins Teleologie stets hinauswollte und die Honold kritisch reaktualisiert. Die lesende Resurrektion "gestorbener Werke", die Honold Benjamin angedeihen lässt, fördert die Hoffnung zutage, an der Benjamin zeit seines bewegten Lebens festgehalten hat. Honolds außerordentliches Buch zeigt uns, mit Kafka gesprochen, wozu uns die kritische Lektüre befähigt und verpflichtet: "Du hast soweit diese Möglichkeit überhaupt besteht, die Möglichkeit einen Anfang zu machen."

Titelbild

Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000.
392 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3930916339

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