Anarchismus und Feminismus

Auf den Spuren einer Utopie

Von Bettina RoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Roß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Silke Lohschelder wagt sich an ein optimistisches Thema: Anarchismus, Feminismus und das Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Sie geht der Frage nach, inwiefern die Lernprozesse des Feminismus seit den 70er und 80er Jahren die Diskussion um gesellschaftliche Veränderung zugunsten von Herrschaftsfreiheit fortführen können. Umgekehrt legt sie Feministinnen die Nutzung anarchistischer Anregungen nahe, um nicht in Einzelkämpfen und Reformismen stecken zu bleiben.

Sie ordnet weder den Feminismus dem Anarchismus unter noch umgekehrt. Vielmehr gibt sie eine kurze Einführung zu anarchistischen Theoretikern (Proudhon, Bakunin, Kropotkin) und ihrer Zeit, um sich dann vor allem den historischen Anarchistinnen zu widmen. Die Kämpfe von Anarchistinnen in Frankreich, den USA und Spanien beschreibt sie selbst. Die Informationen zu den oft unbekannten und namenlos gebliebenen Anarchistinnen aus Russland, Deutschland und Italien liefern Inés Gutschmidt und Liane M. Dubowy. Auf diese Weise entsteht nicht nur ein geschichtliches Bild über Anarchistinnen und ihre Ziele. Vielmehr werden die Unterdrückungspotentiale gegen Frauen innerhalb der anarchistischen Bewegungen ebenfalls sehr deutlich.

Sowohl durch die kritische Durchleuchtung der historischen Kämpfe, als auch in der Schlussdiskussion benennt sie viele der patriarchalen Anteile innerhalb der gemischtgeschlechtlichen politischen Auseinandersetzungen, die einen großen Lernbedarf der Revolutionäre deutlich machen, z. B.: das patriarchale Verhalten der männlichen Mitstreiter, die sich in Diskussionen und erst recht innerhalb von Beziehungen als genau die Tyrannen erweisen, die sie politisch bekämpfen wollen. Sexualisierte Gewalt sowie die Nicht-Verantwortungsübernahme für Reproduktionsaufgaben und Verhütung sind weitere Beispiele eines patriarchalen Beziehungsgefüges auch innerhalb der anarchistischen Bewegung. Das haben Anarchistinnen immer wieder zu spüren bekommen, wenn sie gleichberechtigt, bewaffnet, eigenständig und frei an den politischen Kämpfen teilzunehmen versuchten.

Frauen wurden stets dreifach belastet durch Lohnarbeit, Kinder, Mann und den politischen Kampf. Dabei wurde ihr Beitrag entweder nicht ernst genommen, auf geschlechtsspezifische Bereiche begrenzt (z. B. den Sanitätsdienst im Spanischen Bürgerkrieg) oder nachträglich innerhalb der anarchistischen Geschichtsschreibung geleugnet.

Die anarchistischen Bewegungen haben vielfach die patriarchalen Strukturen der Staaten übernommen, die sie bekämpft haben. So waren und sind anarchistische Männer meist nicht bereit, Privilegien und kostenloses Versorgtwerden aufzugeben. Insbesondere wurde die geschlechtsspezifische Trennung in "männlichen" öffentlichen Kampf und "weibliche" private Sorge mitvollzogen.

Zudem wurden die spezifischen Unterdrückungsmechanismen und Lebensbedingungen von Frauen (die z. B. eben nicht gewerkschaftlich organisiert waren und daher von den Anarchosyndikalisten nicht erreicht werden konnten) nicht berücksichtigt.

Ebenso wurde und wird das Patriarchat nicht als eigenständiges Unterdrückungssystem, das sich mit der sozialen Revolution eben nicht automatisch auflösen wird und das eben keinen "Nebenwiderspruch" darstellt, in die Theorie und Praxis von Anarchisten integriert.

Solange die anarchistische Bewegung nicht auch eine anti-patriarchale ist, sieht Lohschelder wenig Chancen, eine umfassende Revolution und eine herrschaftsfreie Gesellschaft für alle Menschen zu verwirklichen.

Sie kommt zu dem Schluss, dass die Kämpfe von Feministinnen und Anarchisten gemeinsam geführt werden können und sollten: "So, wie Feministinnen überprüfen müssen, inwieweit ihre Forderungen tatsächlich die Lebensrealitäten und Bedürfnisse aller Frauen repräsentieren, muß die anarchistische Bewegung permanent damit konfrontiert werden, daß ein Anspruch der Frauenbefreiung einer ständigen Reflexion verinnerlichter patriarchaler Strukturen und Unterdrückungsmechanismen bedarf, also auch eine Veränderung der Männer zur Voraussetzung hat."

"AnarchaFeminismus" bietet einen guten Überblick über Ursprünge und Entwicklungen des Anarchismus in Europa. Leider verhindert die Kürze des Buches einen vertieften Blick, so dass viele Fragen offen bleiben - wie z. B. die Gründe für das weitgehend patriarchale Geschlechterverständnis bei Bakunin und Kropotkin. Auch sind die Texte zu den einzelnen Ländern sehr uneinheitlich - so befasst sich der Beitrag zu Italien vor allem mit den Anarchistinnen seit den 1960er Jahren und liefert im Gegensatz zu den anderen Ländertexten nur einige wenige Beobachtungen zur Geschichte der Anarchistinnen in Italien. Zudem neigt das Buch dazu, in seine Teile zu zerfallen - z. B. finden sich in der Einführung über anarchistische Theoretiker keine Informationen zu Errico Malatesta, obwohl sich einige der Anarchistinnen auf ihn beziehen bzw. Malatesta selbst als einer der wenigen Anarchisten "die auch explizit die absolute Gleichberechtigung für die Frauen forderten", bezeichnet wird. Bei der Diskussion der Perspektiven fehlt eine Auseinandersetzung mit Malatesta dann ebenfalls. Derartige Unfertigkeiten weist das Buch häufiger auf - so wird nur eine sehr geringe Verbindung zwischen den inhaltlichen Positionen der Anarchisten und den Perspektiven hergestellt. Das Potential, das durch die historischen Grundlagen eröffnet wird, kann auf diese Weise nicht voll ausgeschöpft werden.

Dennoch können Silke Lohschelder und ihre Mitautorinnen einen überzeugenden Einstieg in die Geschichte von Anarchistinnen liefern und auch darstellen, inwiefern die Verknüpfung der Kämpfe gegen Staat, Religion, Kapitalismus und Patriarchat notwendig und sinnvoll ist. Dabei fehlt es nicht am kritischen Blick. Sie grenzt sich vom Differenz-Feminismus der 70er Jahre ab und wendet sich gegen jede Mythologisierung "weiblicher" Herrschaft. Sie stellt dabei auch dar, warum es für Frauen häufig notwendig war und ist, eigenständige Organisationen zu bilden. Dabei votiert sie für politische Kämpfe, die sich aufeinander beziehen und die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung in Theorie und Praxis aufnehmen. Daher rundet sie ihr Buch ab mit der Frage nach Perspektiven, in denen anarchistische Grundgedanken mit den heutigen feministischen Debatten verknüpft werden. Dieser Ansatz ist nicht neu, sondern wurde in den USA von Peggy Kornegger und Carol Ehrlich bereits Ende der 70er Jahre versucht. Diese hatten die großen Parallelen zwischen Anarchismus und Feminismus dargestellt und dabei auch gezeigt, inwiefern die feministische Bewegung bei der Suche nach einer verwirklichenden Gemeinschaftlichkeit bereits führend ist. Von diesen Gedanken wurde aber nur wenig für die feministische Debatte in Deutschland genutzt. Dies beklagt Silke Lohschelder zurecht, diskutiert aber diese wenigen Ansätze nicht. Schon 1985 hat Barbara Holland-Cunz in ihren Untersuchungen über Feministische Utopien ebenfalls die auffälligen Parallelen zwischen Anarchismus und Feminismus dargestellt: "Gleichheit und individuelle Emanzipation vermag der Anarchismus nicht wirklich radikal zu denken". Hierzu fehle ihm ein "ganzheitliches" Konzept von Gemeinschaft und die Erfahrung der Historizität, sprich Veränderbarkeit des Patriarchats. Umgekehrt könne jedoch der herrschaftskritische Gehalt des Anarchismus den Feminismus gegen herrschaftsfördernde Mythenbildung immunisieren. Holland-Cunz' Aufsatz ist neben einigen wenigen Diskussionen über die Mujeres Libres in Spanien eines der seltenen Beispiele einer feministischen Auseinandersetzung mit den Schnittmengen zum Anarchismus in Deutschland.

Ebenso wenig wie mit Holland-Cunz' Ansatz betrachtet Lohschelder die wechselseitigen Versuche anarchistisch-feministischer Auseinandersetzung, z. B. in der Roten Zora, dem Kommunitarismus und in Teilen der "Autonomen". Ihr Vorwurf, dass Anarchisten sich dem antisexistischen Kampf eher vereinnahmend und mit dem Ziel gewidmet haben, mehr Frauen in ihre eigenen Teilbereichskämpfe einzuwerben, ist nur zu wahr und wird von der "Roten Zora" bestätigt, die das von Lohschelder angestrebte "Nebeneinander" unter dem Vorzeichen wechselseitigen Bezuges versucht hat.

Als positiven Ansatz benennt Lohschelder den sozialen Ökofeminismus von Janet Biehl, der ihrer Meinung nach wesentliche Aspekte einer Verbindung sowie Weiterentwicklung von Anarchismus und Feminismus bietet. Hier werden patriarchale, kapitalistische sowie staatliche Unterdrückungsstrukturen bekämpft und durch eine "Ethik des Sorgens" ersetzt, die ein kommunitäres Leben der Menschen mit ihren verschiedenen Bedürfnissen ohne Hierarchien ermöglichen soll. Dieser Ansatz baut auf radikalfeministischen und ökofeministischen Teilen der Frauenbewegung auf, politisiert diese aber erneut und verhindert so ein Abdriften in esoterische und mythologisierende Herrschaftsphantasien.

"AnarchaFeminismus" bietet eine ausgezeichnete Einführung, bei der viele der offenen Fragen kein Mangel sein müssen - die Perspektive zielt auf Bewegung und auf das Führen notwendiger, differenzierter, nicht-reformistischer Auseinandersetzung, die ein Buch niemals ersetzen kann.

Titelbild

Silke Lohschelder: AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie.
Unrast Verlag, Münster 2000.
196 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3897712008

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